Aufsätze zu einer ganzheitlichen Theologie

von Esther Keller-Stocker

Eine unheile Ehe

In Ezechiel 16 erzählt Jahwe die Herkunft Jerusalems als Werdegang einer Frau von ihrer Geburt bis zu ihrem Schuldspruch. Als neugeborenes Mädchen wird sie von ihren Eltern verächtlich aufs Feld geworden. Da geht Jahwe vorüber und lässt das Mädchen einfach aufwachsen. Als das Mädchen in ihre jugendliche Blüte kam, schmückt und heiratet er sie. Ob die Heirat dem Mädchen recht ist, steht nicht zur Diskussion. Er überhäuft sie mit Schmuck und bringt sie zur Königinwürde. Was Jerusalem, die Ehefrau während diesen Ereignissen denkt und fühlt, ist nicht von Belang. Die Ereignisse entspringen ausschliesslich den Wünschen Jahwes, dem Ehemann. Er begehrt die jugendlich schöne Frau. Ob sie ihn, den väterlichen Beschützer, heiraten will, wird nicht gefragt. Kurz, er nützt seine Stellung ihr gegenüber schamlos aus.

Ab Vers 15 fangen die Probleme an: Er wirft ihr vor, mit jedem "Vorübergehenden zu buhlen" und die Fremden noch mit ihrem Reichtum zu belohnen. Sie habe aus dem Besitz ihres Mannes Gottesbilder hergestellt, und auch mit diesen Bildern gehurt. Die Kinder, die sie ihrem Mann geborenen habe, soll sie ihren göttlichen Liebhabern geopfert haben. Doch das schändlichste sei, nach seiner Meinung, dass sie den Buhlenlohn verweigere, den ihr die Männer bezahlen wollen und stattdessen die Männer bezahle (V. 33f).

Die Glaubwürdigkeit dieser Vorwürfe steht und fällt mit der Verteidigungsrede der Frau? Aber sie sagt nichts, hat keine Sprache. Doch wenn sie kein Recht hat, etwas zu sagen, kann er ihr ja vorwerfen, was er will. Es ist reine Willkür. Seine Vorwürfe sind sein Schattenproblem.

Stellen wir uns ein altorientalisches Harem vor, in dem "Jerusalem" als Hauptfrau wohnte. Wo hatte sie da überhaupt eine Möglichkeit, sich mit jedem Vorübergehenden abzugeben. Normalerweise wurden im Alten Orient die Königstöchter ausgetauscht und in die Harems befreundeter Könige gesteckt. Dort blieben sie ihr Leben lang. Die Annalen des Grosskönig Assurbanipals von Assyrien schildern, wie kanaanäische Könige aus Furcht vor dem Assyrerkönig reihenweise ihre Töchter und Schwestern in dessen Harem schickten, um ihre Unterwürfigkeit vor dessen Gewaltherrschaft zu zeigen (1).

Wie ein assyrischer Grosskönig ist Jahwe niemanden für sein Tun verantwortlich. Er kann also auch seine Ängste, Verdächtigungen und Minderwertigkeiten auf seine Ehefrau projizieren soviel er will, ohne dass sie sich wehren könnte. Der Text Ezechiel 16 lässt sich also nach dem Motto interpretieren:

Sage mir, wie du dein Weib strafst,
und ich sage dir, wer du bist!

Die Projektionen zeigen sich ab Vers 35 in krasser Weise, denn unter dem Deckmantel richterlicher Empörung offenbart sich seine ganze sexuelle Lüsternheit. Man erfährt voll Entsetzen, dass er zur Strafe ihrer Hurerei ihre Buhlen einlädt, damit sie Zeugen werden an ihrem Fall. Ihre Strafe besteht darin, dass er sie vor all den Männern, die sie geliebt und die sie gehasst hat, nackt auszieht, um sie dann auf dem Felde liegen zu lassen. Durch den Mund des Propheten begründet er sein Tun wie folgt: "Damit er seinen Grimm und seine Eifersucht an ihr stillen kann". Nach Christl Maier soll er sie nicht nur vor allen Männern nackt ausgezogen haben, sondern er soll an ihr auch noch den Geschlechtsverkehr vollziehen haben, um, wie ein Hund, vor aller Welt zu markieren, wer über Jerusalem Herr und Meister ist!

Er lässt sie nackt auf dem Felde liegen wie einst die Eltern es nach ihrer Geburt getan haben. Das heisst, in V. 39 schliesst sich der Kreis zu V. 1. Wenn Jahwe sich zu Beginn des Kapitels als "Erbarmer" aufgeplustert hat, so erkennt man hier, er reagiert nicht nur gleich wie die Eltern der Frau sondern zeigt auch noch eine perverse Lüsternheit.

In Ezechiel 16,47 bringt Jahwe "die Töchter Sodoms" ins Spiel, die ebenfalls wie Jerusalem gehurt haben sollen. Der Text, auf den der Prophet anspielt, ist I. Mose 19. In I. Mose 19 wird aber eine ganz andere Geschichte erzählt: In I. Mose 19 wollen sich offenbar homosexuelle Männer an die Boten Jahwes heranmachen. Lot wehrt sich für die göttlichen Boten und bietet den lüsternen Männern stattdessen seine beiden jungfräulichen Töchter an (so auch in Richter 19).

 In Ezechiel 16,47ff.  kann man auch nicht sagen, mit Jerusalem sei eine "Stadt" gemeint und damit alle Bürger und Bürgerinnen. Mit dem Symbol "Stadt" gleich "Frau" wird die Schuld auf "weiblich" fixiert. In Ezechiel 16,49 wird das erotische Motiv dann mit einem sozialen vermischt, denn in V. 49 wird der reichen Stadt Sodom vorgeworfen, sie hätte sich zu wenig um die Armen gekümmert. Die erotische Symbolik zielt aber am ethischen Vorwurf vorbei auf die verdrängte Erotik des Autors.

Doch wie können die Vorwürfe Jahwes gegenüber seiner untreuen Ehefrau zu ihren Gunsten interpretiert werden. Da sie nirgends zur Sprache kommt, dürfen wir annehmen, dass sie zur Heirat mit Jahwe gezwungen wurde. Sie hatte als seine Ehefrau schon immer seinen Hang zur Gewalttätigkeit am eigenen Körper zu spüren bekommen. Deshalb suchte sie mehrere Male ihm davonzulaufen. Dabei suchte sie Schutz bei anderen Fürsten. Doch diese Fürsten waren nicht besser als ihr eigener Mann und betrachteten sie als sexuelles Objekt, an dem sie sich vergreifen konnten. Die Tributzahlung, welche sie als Schutzgelder bezahlen wollte, wurde dann in dieser von Männer verschwören Welt prompt als Dirnenlohn an Buhlen ausgelegt.

Im Verhalten Jahwes kommt eine primitiv narzisstische Struktur zum Ausdruck: Seine masslose Rücksichtslosigkeit, sein massloser Machtanspruch gegenüber einer ihm nicht willigen, aber rechtlosen töchterlichen Ehefrau. Dieser Machtanspruch ist als Kompensation eines unbewussten Minderwertigkeitskomplexes zu verstehen (2). Aus der Psychologie ist bekannt, dass der Mann und besonders eine so primitive Persönlichkeit wie es Jahwe ist, immer sein Mutter heiratet. Seine unbewusste Konstellation sieht dann so aus: Der nun schon eher ältere Mann hatte es offenbar verpasst, seine Mutterbeziehung adäquat zu verarbeiten. Als nun das elternlose Mädchen herangewachsen war, suchte er sie für sich zu gewinnen und zwang sie gewaltsam, ihn zu heiraten. Sie versuchte dann immer wieder auszubrechen, was sein Ego masslos verletzte: Für ihn läuft nicht eine rechtlose junge Frau davon, sondern nach seinem Gefühl lässt ihn seine Mutter im Stich. Und dies verursacht in ihm gewaltige Ängste und grosse Unsicherheit. Da er seine infantilen Schwächen gepaart mit seiner lüsternen Abgründigkeit nicht wahrhaben will, muss er ein absolutistisches Machtgefüge um seine Person aufbauen mit dem Ziel, die jugendliche Ehefrau als Manifestation seines idealen Mutterbildes sich gefügig zu machen.

  1. aus einer älteren Übersetzung, herausgegeben von Maximilian Streck, Assurbanipal und die letzten assyrischen Könige bis zum Untergang Ninives
  2. Vgl. Horst E. Richter, Der Gotteskomplex

Fackel

Letzte Revision: 17.04.2012