von ESTHER KELLER-STOCKER
Das Markusevangelium ist ein Geflecht verschiedener Erzählungen, Erinnerungen, Glaubenserfahrungen mit Jesus. Der Evangelist Markus hat daraus eine Lebensgeschichte Jesu geformt (1). Aber worauf ist diese Geschichte aufgebaut? Vorstellungen wie „er steigt aus dem Wasser und sieht die Himmel sich öffnen", „er gebietet über Sturm und Meer“, „er treibt unreine Geister aus“, „er reitet auf den Wolken“ sind Motive eines Mondmythos.
Es ist die Vision der Frauen, die am Grab standen und erfuhren: Er ist nicht da, er ist auferstanden. Sie fragten sich: Wo ist er? Was bedeutet „Auferstehung“? Ihre Antwort: „Er steigt aus dem Wasser in die sich öffnenden Himmel hinein (Mk. 1,10) und gleitet nun in einem Boot über das Meer (Mk. 4,1). Er spricht nun im Gleichnis der Aussaat über das Gottesreich. Eine Gruppe von Jüngern sucht darauf, das Gleichnis in ihrem Sinne zu interpretieren. Doch da erhebt sich eine Stimme gegen sie und erzählt das Gleichnis neu.
Und hat wieder begonnen (ἤρξατο) zu lehren entlang des Meeres (2). Und eine riesige Menge (3) versammelt sich bei ihm, sodass er in ein Boot gestiegen ist und (jetzt) im Meer sitzt (4).
Geballt kommt in diesem einzigen Satz etwas Urtümliches zum Ausdruck. Man liest gerne darüber hinweg, beachtet ihn neben ähnlichen Geschichten kaum. Aber er spricht den tieferen Sinn des Evangeliums aus: Da ist er allein und begann am Meer zu lehren. Der Wort „Meer“ kommt in diesem einen Vers dreimal vor. Was das für ein Meer ist, wo es liegt und wie es heißt, wird nicht gesagt. Auch der Name des Redners fehlt, „er“ als Subjekt steht unbetont im Verb. Es sind auch keine Anhänger anwesend, keine Jünger, niemand. An wen richtet sich seine Lehre? „Er begann entlang des Meeres zu lehren“, ob er ging oder stand, wissen wir nicht. Und da niemand da war, belehrt „er“ aufs Meer hinaus. - Es ist das mythische Bild des Mondes als Mann im Boot. „Er“ ist im Meer, während die drängelnden Gestalten auf sicherem Boden am Meer waren (Impf.). „Er“ ist eins mit dem Meer (Präs.), aus dem die Menge zusammen kommt (Präs.) und am Ufer waren (Impf.), als hätte das Licht des Mondes sie an Land gespült. „Er“ gleitet lehrend über das Meer, über den Urozean, wie der Geist, der über dem Chaos schwebt (Gen. 1).
Es ist die Vision (5) einer weiblichen Seele, die hinter all dem Schrecken des am Kreuz um Atem ringenden Jesus den Sinn seines Tod zu verstehen sucht, und plötzlich einen Schimmer der Hoffnung erfährt: Er ist auferstanden! – Sprachlosigkeit, Entsetzen. (Mk. 16,6-8). „Auferstanden“, was bedeutet das? Da drängt sich ihr die Antwort auf: Ein kosmisches Geschehen, alltäglich in seiner Art, steht nun in Beziehung mit dem geliebten Toten: Er ist aus dem Wasser gestiegen in die sich öffnenden Himmel (Mk. 1,10). Es ist wie eine Geburt aus den unteren Gewässern in die obere himmlische Sphäre (6) , und nun gleitet „er“ im Boot über das Wasser, sein Schein ruft Gestalten herbei, die wie er aus dem Meer kommen. Es ist eine Schau des Göttlichen, also mystisch. Sie stammt von den Frauen am Grab: Das, was sie berichten, haben sie von ihm erfahren, der wie der Mond am Himmel vorüberzieht (7) und die Welt lehrt. - Männer wie Petrus oder Paulus denken nicht in solchen Kategorien. Ihnen geht es um Macht und Autorität, sahen sich als die berufenen Anführer der neuen Strömung, fühlten sich jüdischen Traditionen verpflichtet, aus denen sie ihre Legitimation ableiteten.
„Er hat wieder begonnen zu lehren“. Das Wort „wieder“ (πάλιν) sucht den Satz mit Mk. 2,13 zu verbinden.
Und er ging wieder hinaus an den See, und die ganze Volksmenge kam zu ihm, und er lehrte sie. (Mk. 2,13)
Der Hinweis leitet die Berufung Levis ein, ist jedoch aus der urtümlichen Szene von Mk. 4,1 übernommen. Damit erfolgte die Berufung Levi erst nach dem Tod Jesu.
Die Verknüpfung eines Anspruchs mit dem Mondmythos kommt im Markusevangelium immer wieder vor, zum Beispiel, wenn Jesus vor dem Hohepriester bestätigt, dass er der Sohn des Höchsten sei. Dann folgt: „Und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels“ (Mk. 14,62). Dies entspricht dem Lauf des Mondes, zu dem Jesus im Tode in Verbindung steht. Der Redaktor Markus verbindet den Anspruch Jesu, den Sohn des Höchsten zu sein mit dem Mondmythos, der ihm vorliegt. Mit diesem Bekenntnis schreitet Jesu nun wie der abnehmende Mond in grossen Schritten in die Dunkelheit, aus der „er“ (in ein paar Tagen wieder) sichtbar wird.
Ohne das Wort „wieder“ lautet Markus 4:1: „Er begann zu lehren“, und eine Menge versammelt sich um ihn (Präs.). Der Ausdruck spiegelt ein zeitloses, mythisches Denken; ἤρξατο signalisiert den Beginn dieses Ereignisses (8), ein Naturgesetz, das vor der Zeit begann, aber jetzt die Massen (ὂχλος πλεῖστος) (9) in Bewegung setzt (συνάγεται, Inf. Präs.) (10).
Dies gilt auch für den zweiten Teil des Satzes: „er stieg in ein Boot“ (εἰς πλοῖον ἐμβάντα, Prt. Aor.) und sitzt nun im Meer (καθῆσθαι ἐν τῇ θαλάσσῃ, Inf. Präs.) .
In Mk. 3,9 weist Jesus die Jünger an, ihm ein kleines Boot bereitzustellen (Präs.): „damit sie (die Massen) ihn nicht bedrängen (Präs.).“Θλιω“ (erdrücken) lässt an die Dunkelheit denken, die den zunehmenden Mond immer noch bedroht. In Kap. 3,7-9 versucht der Redaktor die ihm vorliegende mythische Aussage in einen konkreten Kontext zu stellen. So beschreibt er Massen von Menschen, wie sie von überall herkommen, nämlich aus Galiläa, Judäa, Jerusalem und Idumäa, aber auch von jenseits des Jordans und aus der Gegend von Tyrus und Sidon. Auch der Grund ihres Kommens wird genannt: „da sie hörten, wie viel er tat, kamen sie zu ihm.“ Das Mythische von Mk. 4,1, die Vision des Auferstandenen im altorientalischen Bild des grossen zeitlosen Lehrers im Meer, ist verschwunden.
In Mk. 4,1b beschreibt die Autorin die erste Begegnung:
Und die ganze Menge am Meer waren auf der Erde.
καὶ πᾶς ὁ ὄχλος πρὸς τὴν θάλασσαν ἐπὶ τῆς γῆς ἦσαν.
Da wechselt sie zum Imperfekt: die riesige Masse waren am Ufer. Man fragt sich, ob es sich um eine sprachliche Unsicherheit handelt, oder ob die Autorin eine Ursituation beschreibt.
Es geht im Imperfekt weiter:
Und er lehrte (immer wieder) sie vieles in Gleichnissen und er sagte zu ihnen in seiner Lehre. (V. 2)
Die Parabel beginnt mit der Aufforderung „Hört (Ἀκούετε, V. 3) und schliesst mit der Feststellung: „wer Ohren hat zu hören, der höre“ (ὃς ἔχει ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω). Dies erinnert an die griechischen Mysterienkulte, die in Andeutungen nach aussen dringen, aber nur von den Eingeweihten verstanden werden . Erich Neumann nennt es Mondbewusstsein und zitiert dazu Johann W. von Goethe:
„Sag es niemand, nur den Weisen.
Weil die Menge gleich verhöhnet.“
Zum Mond gehört die Saat. Ein berühmtes Beispiel dazu ist der ägyptische Mondgott Osiris, einst ein sagenumworbener König, der gewaltsam getötet zum Totengott wurde. Er ist auch für Saat und Fruchtbarkeit zuständig.
Und es geschah (Aor.), während des Säens (Präs.) fiel etliches entlang des Weges, und es kamen die Vögel und frassen (Aor.) es auf. (Mk. 4,4).
Es ist von einem einzigen Samenkorn die Rede, was mit „etliche“ übersetzt wird. Dies macht Sinn, da mehrere Vögel die Körner aufpicken.
Und anderes fiel auf das Steinige, wo es nicht viel Erde hatte; und es ging sogleich auf, weil es nicht tiefe Erde hatte. (V. 5)
Und anderes fiel unter die Dornen; und die Dornen sprossten auf und erstickten es, und es gab keine Frucht. (V. 7)
In allen drei Fällen geht die Saat nicht auf. Das meiste Saatgut fällt jedoch auf guten Boden:
Und anderes fiel in die gute Erde und gab Frucht, indem es aufsprosste und wuchs; und es trug eines dreißig-, eines sechzig- und eines hundert⟨fach⟩. Und er sprach: Wer Ohren hat zu hören, der höre! (V. 8f. vgl. IV. Esra 8,41:)
Alle Augen sind auf den Sämann gerichtet, der den Samen auf das Feld wirft, aber die Kraft, die den Samen auf gutem Boden gedeihen lässt, kommt von der Erde. Wie das „Meer“ als Geburtsort ist die Erde eine Manifestation der Großen Mutter. Die Vision des Meeres, des Himmels oder der Erde als mythischer Mutterschoß stammt von einer Mystikerin. Denn Männer konzentrieren sich auf den Mann, den Vater, den Sohn: Jesus, der Sohn Gottes, Jesus, der Spross des Königs David. Dieses Denken gilt auch für unsere heutigen Theologen, so z.B. Wilfried Eckey, der zu Beginn seines umfangreichen Buches über das Markusevangelium die Zeugen der Passion Jesu wie folgt zitiert:
Soweit mündlich überlieferte Stoffe Namen enthalten, sind diese als Hinweise auf ihre ersten Zeugen und Erzähler anzusehen. Das gilt für Simon und Andreas (1,16.29; 5,27; 8,29.30 etc.), Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus (1,18-20 etc.), Levi, der Sohn des Alphäus (2,14), Jairus (5,22), Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus (10,35), Bartimäus, den Sohn des Timäus (10,46), Simon der Aussätzige (14,3), Simon von Kyrene, den Vater von Alexander und Rufus (15,21), Josef von Arimathäa (15,41)
und die Frauennamen in der Leidens- und Auferstehungserzählungen (Mk. 15,40.47; 16,1).
Für unsere Theologen sind Männer Zeugen und Erzähler Jesu. Frauen, von denen das Evangelium drei namentlich kennt, nämlich Maria von Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus und des Joses, und Salome, spielen keine Rolle. Der Mann ist der Maßstab, was Frauen denken und fühlen, interessiert nicht. Dass dabei der Blick für das Wesentliche verloren geht, kann nicht verwundern.
Auch das Alte Testament zeigt dieselbe Sichtweise. So schrieb der Prophet Jeremia:
da säe ich das Haus Israel und das Haus Juda: Samen von Menschen und Samen von Vieh. Und es wird geschehen, wie ich über sie gewacht habe, um auszureißen, abzubrechen, niederzureißen, zugrunde zu richten und zu vernichten, ebenso werde ich über sie wachen, um zu bauen und zu pflanzen, spricht JHWH. (Jer. 31,27)
Nirgendwo ist da von der guten Erde die Rede, auf dem die Saat gedeiht, sondern von Gott, der nach seinem Gutdünken den Samen mutwillig vernichtet oder ihn gedeihen lässt.
In Markus 4,10 finden sich ein Einschub, der nicht zum Gleichnis passt:
Und als er allein war, fragten ihn, die um ihn waren, - samt den Zwölfen - nach den Gleichnissen. (V. 10)
Die Situation hat sich verändert. Nun ist er allein mit einer auserwählten Gruppe. Das Mystische von V. 1 ist verflogen. „Samt den Zwölfen“ wirkt wie eingeschoben. Der Redaktor Markus scheint, die Deutung des Gleichnisses unter die Kontrolle der Apostel bringen und durch die Worte Jesu bestätigen zu wollen:
Und er sprach zu ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben, jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil, ‚damit sie sehend sehen und nicht wahrnehmen und hörend hören und nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben wird. (Mk. 4,11-12).
Wer also nicht zum Kreis der Jünger gehört, dem fehlt das Verständnis für das Reich Gottes. Die kleine Gruppe Auserwählten beansprucht damit die Autorität der Auslegung. Die Aussenstehenden können sich nicht bekehren und ihnen wird nicht vergeben! Das aber widerspricht dem Gleichnis, nach dem die meisten Saatkörner auf der guten Erde aufgehen und gedeihen.
Die Verurteilung (Mk. 4,12) ist ein Zitat aus Jesaja 6, wo der Prophet von Gott den Auftrag erhält, das Volk zu verwirren und damit zu strafen (Jes. 6,9-10). In Markus 4,10ff. tritt an die Stelle des Propheten die kleine Gruppe, die nun die Massen in die Irre führt. – Das muss man sich einmal vorstellen! Diese Arroganz, diese Bosheit, mit der das Gleichnis verdreht wird. Es ist, als spräche der Satan.
Doch da meldet sich eine Kritikerin: Was ist das Reich Gottes? Haben die Jünger es verstanden? Nein, denn sie haben nicht einmal das Gleichnis begriffen:
Und er sagt zu ihnen (kαὶ λέγει αὐτοῖς, Präs): Dieses Gleichnis habt ihr nicht verstanden (οἴδατε; Perf.)? Wie wollt ihr dann die Gleichnisse überhaupt verstehen (Mk. 4,13; γνώσεσθε, Fut.)?
Er wiederholt nun das Gleichnis von der Aussaat, ersetzt dabei das Saatkorn durch ‚das Wort‘.
Der Sämann sät das Wort. Die auf dem Weg aber sind die, bei denen das Wort gesät wird, doch wenn sie es gehört haben, kommt sogleich der Satan und nimmt das Wort weg, das in sie gesät ist (Mk. 4,15).
Das schreibt jemand, der sich klar gegen die Autorität der Zwölfen ausspricht. Die Kritik geht weiter:
Und die auf felsigen Boden (ἐπὶ τὰ πετρώδη) gesät sind, das sind die, welche das Wort, wenn sie es gehört haben, sogleich freudig aufnehmen. Doch sie haben keine Wurzeln, sondern sind unbeständig. Wenn es danach zu Bedrängnis oder Verfolgung kommt um des Wortes willen, kommen sie gleich zu Fall. (Mk. 4,16f.)
"Auf felsigen Boden" (ἐπὶ τὰ πετρώδη‘) erinnert an Petrus, dem Fels, der Jesus versichert hatte: „Und wenn alle zu Fall kommen - ich nicht“ (Mk. 14,29), und ihn wenige Stunden später verleugnet und verflucht.
Der Satz in V. 16 erinnert an die Parallele im ersten Gleichnis. Da kommt noch eine unerwartete Ergänzung hinzu:
Und als die Sonne aufging, wurde es verbrannt, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. (V. 6.)
Die Erwähnung der aufgehenden Sonne (ἀνέτειλεν ὁ ἥλιος) lässt aufhorchen. Wird hier ein Ereignis angedeutet, das die Kritikerin unbedingt einbringen will? Die aufgehende Sonne erinnert an die drei Frauen, die am frühen Morgen in der Dämmerung zur Höhle gingen, als eben die Sonne aufging (ἀνέτειλεν ὁ ἥλιος; 16,2). Sie hielten dem Verstorbenen die Treue, während die auserwählten Jünger fehlten, darunter Petrus, der doch versichert hatte, lieber zu sterben, als ihn zu verraten, auch er fehlt! Dieser Verdacht erhärtet sich im zweiten Gleichnis vom „Wort, das unter die unter Dornen fällt“:
Das sind die, welche das Wort gehört haben, doch die Sorgen dieser Welt und der trügerische Reichtum und die Gier nach all den anderen Dingen dringen in sie ein und ersticken das Wort, und es bleibt ohne Frucht. (Mk. 4,18f.)
Es klingt wie ein Fluch gegen Petrus, dessen Predigten die Anhänger dazu bewegten, ihren Besitz zu verkaufen und das Geld den Aposteln zu Füssen zu legen. Doch wehe denen, die es nicht taten (Apg. 1-5). Nach Mk. 8,33 nennt Jesus ihn sogar Satan, nach dem Evangelisten Lukas wird ihm aber sogleich vergeben. Petrus aber vergibt niemandem.
Am Ende des zweiten Gleichnisses wird noch einmal bestätigt, dass das meiste Saatgut gedeiht und Früchte trägt.
Und die auf die gute Erde Gesäten sind jene, die das Wort hören und aufnehmen und Frucht bringen: eines dreißig- und eines sechzig- und eines hundert⟨fach⟩. (Mk. 4,20)
Um das Wort aufzunehmen und Früchte zu tragen, bedarf es keiner Autorität. So zeigen im Markusevangelium einzelne Personen beispielhaft, was es heisst, das Wort zu hören und aufzunehmen.