Bewusstseinsmutationen nach
Jean Gebser
Jean Gebser unterscheidet in seinem Werk "Ursprung und Gegenwart" zwischen vier verschiedenen Bewusstseinsphasen, die die Menschheit innerhalb ihrer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung durchgemacht haben sollen. Auf der untersten Ebene der Bewusstseinsentwicklung befindet sich das archaische Bewusstsein, dann folgt das magische, mythische und zuletzt das mentale Bewusstsein. Jean Gebser nimmt an, dass in unserer Zeit das mentale Bewusstsein durch das integrale ersetzt wird.
Der Übergangvon einer Bewusstseinsphase in die andere findet durch eine Mutation statt. Bei der Durchsetzung der neuen Bewusstseinsphase bleiben die vorangegangenen Bewusstseinsphasen in verdrängter Form im Unbewussten bestehen. Jeder Bewusstseinsphase ordnet Jean Gebser verschiedene Aspekte zu. Zum Beispiel untersucht er jede Bewusstseinsphase nach seiner Raum- und Zeitorientierung (II, 695).
Das archaische Bewusstsein
Das archaische Bewusstsein ist gekennzeichnet durch Vor-Zeitlichkeit und Vor-Räumlichkeit, es ist ein nulldimensionales Bewusstsein. Dieses nulldimenisonale Bewusstsein ist bewusstlos. Unbewusst sein heisst auch kein Ich haben. Die archaische Bewusstseinsphase ist also Ichlos.
Das magische Bewusstsein
Der magische Mensch tritt aus der nulldimensionalen Struktur des archaischen Bewusstsein in die eindimensionale Unität. In der eindimensionalen Unität herrscht weiterhin die unbewusste Raum- und Zeitlosigkeit, Ich-Welt-Gott werden als energetische Punkte erlebt, die in einer Wechselbeziehung stehen und austauschbar sind. Das Symbol dieses Bewusstsein ist der Punkt, es ist ein Punkte-Bewusstsein, in dem eine Grösse pars pro toto andere Grössen vertreten kann. Ich denke da an die "Kuh" als Repräsentantin der "Allmutter", die zugleich die Welt ist.
Nach Jean Gebser erfährt der magische Mensch sein Ich als diffuse Ansammlung von Lichtpunkten, das sich als Gruppen-Ich, im Clan oder Stamm, organisiert. Ein solcher Clan sieht sich einer punkthaft erfassten Energie geladenen Welt gegenüber, die eine beständige Bedrohung darstellt.
In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass in dieser Struktur das Bewusstsein noch nicht im Menschen ist, sondern noch in der Welt ruht. Die allmähliche Umlagerung dieses Bewusstseins, das auf ihn einströmt, und das er assimilieren muss, oder von ihm aus gesehen: diese erwachende Welt, der er gegenüberstehend allmählich bewusst wird - und in jedem Gegenüber liegt zugleich etwas Feindliches -: beides muss er meistern. Und er antwortet auf die ihm entgegenströmenden Kräfte mit den ihnen entsprechenden eigenen: er stellt sich gegen die Natur, er versucht sie zu bannen, zu lenken, er versucht, unabhängig von ihr zu werden; er beginnt zu wollen. Bannen und Beschwören, Totem und Tabu sind die naturhaften Mittel, mit denen er sich von der Übermacht der natur zu befreien, mit denen sich die Seele in ihm zu verwirklichen, sich ihrer bewusst zu werden versucht (I, 88).
Diese Bedrohung wird einmal als konkrete Gefahr in wilden Tieren und fremden Horden erlebt, aber auch in numinosen Kräften, in Gestalt von Geistern und Gespenster, die in Bäumen, Felsen oder im Gewässern hausen. Diese Kräfte müssen bekämpft oder zumindest manipuliert werden. Damit wird der Mensch zum Macher, zum Magier oder zur Magierin. "Machen" und "Magie" stammen aus der gleichen Sanskrit-Wurzel magh. Der magische Mensch will nicht mehr nur in der Welt sein, sondern die Welt haben (I, 87), und so sucht der magische Macher, die Hexe oder der Zauberer, die Welt zu manipulieren. Uns sehr geläufige Vorstellungen, denn auch wir sind Magier, bedienen uns der Mechanik und der Maschine, um die Umwelt zu bewältigen. "Mechanik", "Maschine" und "Machtpolitik" (I, 96) stammen ebenfalls aus der Wortwurzel magh und sind unsere magische Möglichkeiten die Welt zu bekämpfen und zu besitzen.
Das mythische Bewusstsein
Jean Gebser beschreibt den Übergang vom magischen zur mythischen Bewusstseinsphase als ein Zeitgefühl, das naturhaften Charakter hat. Eng mit diesem Zeitgefühl ist "die Seele" verbunden. "Zeit" und "Seele" sind Ausdruck psychischer Energie und bilden die Vorformen der "Materie". Jean Gebser unterscheidet das magische Bewusstseins als Bewusstwerdung der Natur vom mythischen Bewusstsein als Bewusstwerdung der Seele. Die mythische Struktur erkennt Jean Gebser in Jahreszeiten-Riten der alten Hochkulturen. In Astronomie und Kalender alter Kulturen soll sich das zum Abschluss kommende magische Bewusstsein ausdrücken. Der Rhythmus der Natur wird als zeitliches Phänomen wahrgenommen (I, 105). Das magischen Bewusstseinsphäre befreite sich von der Natur. Mit der Befreiung von der Natur distanziert sich das Ich auch von der Natur, wird sich aber dessen auch bewusst. Die mythische Bewusstseinssphäre entdeckt nun die Innenwelt des Menschen, die Seele. Der vereinzelte Punkt des Motivs pars pro toto erhält eine zweidimensionale Struktur, welcher sich im einschliessenden Kreis, dem Symbol der Seele, darstellen lässt. Der Kreis umfasst alles Polare und bindet es ausgleichend ineinander: So kehrt im ewigen Kreislauf das Jahr über seine polaren Erscheinungsformen von Sommer und Winter in sich zurück, ebenso wie die Sonne in ihrem Lauf über Mittag und Mitternacht, Licht und Dunkelheit umschliessend in sich zurückkommt. Die mythische Struktur erkennt die Gegenpole in der Natur und setzt den Himmel und die Sonne als Gegenpol zur Erde und Himmel in Gegensatz zur "Unterwelt", so dass die im magischen Kampfe angeeignete Erde gleichsam umfangen wird von den beiden polaren seelischen Wirklichkeiten: von dem untererdhaften Hades und dem übererdhaften Olymp. Da alles Seelische Spiegelcharakter hat, trägt es nicht nur naturhaften Zeitcharakter, sondern impliziert auch das Nicht-an-die-Zeit-gebundene, das Ewige, das auf den Himmel oder auf die Hölle bezogen ist (I, 107).
Das Verhalten der Gottheit oder des Menschen in der mythischen Bewusstseinsphase ist gekennzeichnet durch das Schliessen der Sinnesorgane, das schweigende Nach-Innen-Sehen und Nach-Innen-Hören. Das Resultat ist der Mythos, das Wort als Ausdrucksmittel des Innen-Erschauten und Erträumten.
So ist das Wort stets Spiegel des Schweigens, so ist der Mythos Spiegel der Seele. Erst die blinde Seite ermöglicht die sehende. Und da alles Seelische vor allem auch Spiegelcharakter hat, trägt es nicht nur naturhaften Zeitcharakter, sondern ist stets auf den Himmel bezogen; die Seele ist ein Spiegel des Himmels - und der Hölle. So schliesst sich der Kreis von Zeit - Seele - Mythos - Hölle und Himmel - Mythos - Seele - Zeit (I, 104f.)
Das mentale Bewusstsein
Das mentale Bewusstsein tritt aus der Geborgenheit des zweidimensionalen Kreises und aus dessen Einschliessung heraus in den dreidimensionalen Raum: Da ist kein In-der-polaren-Einheit-Sein mehr; da ist nur das fremde Gegenüber, der Dualismus, der durch die denkerische Synthese als Trinität überbrückt werden soll; denn von Eine-Zeit-Entsprechung, geschweige denn von Ganzheit ist nun nicht mehr die Rede (I, 132)
Es ist eine Welt des Menschen; das will sagen, es ist eine vorwiegend menschliche Welt, in welcher "der Mensch das Mass aller Dinge" ist (Protagoras); in welcher der Mensch selber denkt und dieses Denken richtet; und es ist eine Welt, die er misst, nach der er trachtet, eine materielle Welt, eine Objektwelt, die ihm gegenübersteht. Im Keime sind die grossen formgebenden Begriffe hier enthalten, Begriffe, die mentale Abstrakta sind und die an die Stelle der mythischen Bilder treten, Abstrakta, die in einem gewissen Sinne Göttererscheinungen also Götzen sind: Anthropomorphismus, Dualismus, Rationalismus, Finalismus, Utilitarismus, Materialismus: kurzum die rationalen Komponenten der perspektivischen Welt (I, 132).
Das Aus-der-Natur gelöste Ich ist auch ein Zu-sich-selber-Erwachen des Menschen und ein Erkennen seiner selbst, wie es in einer Inschrift im Apollo-Tempel zu Delphi heisst "gnothi süauton". Mit dem Erwachen des Menschen erhält das Denken eine vorrangige Bedeutung und besonders das gerichtete Denken, mit dem der Mensch aus dem dämmerhaften mythischen Bewusstsein heraustritt. Er gibt sich selber eine Ordnung, indem er Rechte schafft:
So vermittelt Mose am Berge Sinai dem Volk das göttliche Gesetz, Lykurg verfasste das spartanische Recht und später Solon das athenische. Mit "Recht" wird die "rechten" Seite betont, das nicht nur für das wache Bewusstsein steht sondern auch für das männliche Prinzip (I,133-135)
Der Begriff mental impliziert im Deutschen Mentalität in Sinne von moralischer Einstellung. Das ursprüngliche Wort von mental (menos) hat aber eine komplexere Bedeutung, es bedeutet: "Absicht, Zorn, Mut, Denken, Gedanke, Verstand, Besinnung, Sinnesart, Denkart, Vorstellung". Die Grundlage für die Mutation ins mentale Bewusstsein ist "Zorn" und "Denken", welche zunächst noch mythisch im Zorn der Götter, der Zorn Zeus oder der Zorn Jahwes, erfahren wurde aber dann auf das menschliche Ich überging (5; S. 127).
Der Zorn, nicht als blinder, sondern als denkender Zorn, gibt dem Denken und der Handlung Richtung; und er ist rücksichtslos, das will besagen: er sieht nicht nach rückwärts, er wendet den Menschen fort von der bisherigen mythischen Welt der Eingeschlossenheit und ist vorwärtsgerichtet, wie die zielende Lanze, wie der in den Kampf stürzende Achill. Er einzelt den Menschen von der bis anhin gültigen Welt - der Ton liegt auf Mensch - und ermöglicht sein Ich. (I, 129)
War das mythische Denken ein imaginäres Bilder-Entwerfen, das im die Polarität umfassenden Kreises eingeschlossen war, so handelt es sich bei dem gerichteten Denken um ein Objekt bezogenes und damit auf eine Dualität gerichtetes Denken. Der mentale Mensch oder Gott sieht sich als Subjekt einem Objekt gegenüber.
Diese Sicht möchte ich mit der Vorstellung von Erich Neumann wie folgt ergänzen:
Der Menn im mentalen Bewusstsein sieht sich stets als Mann einem Nicht-Ich gegenüber. Dieses Nicht-Ich wird als weiblich erfahren, das unbewusst mit der Grossen Mutter alter Zeiten assoziiert dämonische Züge erhält. Die Sanskrit-Wurzel von Mutter Ma(t) enthält Begriffe, wie matar, von dem sich Mutter und Materie ableiten lassen, aber auch Meter und "messen". "Meter" und "Mass" gehört zum mentalen System, mit welchem das männliche Ich das Mütterliche, die Materie, beherrschen will.
Jean Gebser formuliert "das Mass/messen" wie folgt:
...: dass die ursprüngliche Wurzel "ma: me" latent und komplementär auch das weibliche Prinzip enthält. Denn das griechische Wort für "Mond" , men, geht auf diese Wurzel zurück. Und die Sekundürwurzel "mat" erlebt ja in der heutigen patriarchalen Welt ihre Glorifizierung, die sich in dem Beherrschtsein des rationalen Menschen durch die "Materie" und den "Materialismus" zu erkennen gibt. War der Mond für den frühen Menschen der zeitliche Maasstab, so ist die Materie für den heutigen Menschen der räumliche Masstab (S. 131)
Das integrale Bewusstsein
Integrales Bewusstsein heisst Ganzwerdung, die Wiederherstellung des unverletzten ursprünglichen Zustandes unter dem bereichernden Einbezug aller bisherigen Bewusstseinsleistungen. Dem integralen Menschen werden die verschiedenen Strukturen durchsichtig und bewusst. Auch wird ihm die Auswirkungen auf sein eigenes Leben und Schicksal gewahr. Die defizient wirkenden Komponenten wird er durch eigene Einsicht derart meistern, dass sie jenen Grad an Reife und Gleichgewicht erhalten, die für die Vorbereitung der Konkretisierung nötig sind. Konkretisierung heisst das Losungswort:
Denn es kann nur das Konkrete, niemals das Abstrakte integriert werden (I, 167)
Nach Jean Gebser versuchte erstmals Jacopo da Pontorm, ein Schüler von Leonardo da Vinci den Sprung vom mentalen zum integralen Bewusstsein, denn in der "Lehre von den Kegelschnitten" (1639) verlässt Pontorme den dreidimensionale Raum in den erfüllten Kugelraum.
Er verlässt damit die "Leere" des nur linearen Raumes und rührt an jene Dimension, die als Erfülltsein, die zumindest latente Präsenz des Zeitlichen voraussetzt (I, 168f.)
Die Kugel ist das sinnfällige Symbol der integralen Struktur, zumal die sich bewegende Kugel eine vierdimensionale Struktur darstellt. Die gleiche in sich bewegenden kreisförmige Struktur sieht Jean Gebser z.B. auch in der klassischen Musik enthalten, weil jeder musikalische Satz in der gleichen Tonart zu enden hat, in der er begann (I, 170).
Jean Gebser sieht unsere Zeit als reif, dass der Übergang vom mentalen zum integralen Bewusstsein auf einer breiten Ebene vollzogen wird.
Letzte Revision am 29.05.2014