Aufsätze zu einer ganzheitlichen Theologie

von Esther Keller-Stocker

Horst E. Richter

DER GOTTESKOMPLEX

Horst Richter beginnt sein Buch "der Gotteskomplex" mit dem Beispiel eines intellektuell wachen Kindes, welches ab einem gewissen Zeitpunkt den Eltern nicht mehr traut. Dieses Misstrauen verursacht im Kinde Angst. Um diese Angst zu meistern, muss das Kind alles unter seiner Kontrolle bekommen. Gleichzeitig entwickelt es um seine Person Allmachts-Phantasien. Sein Verhalten steht in keinem Verhältnis zu seinem effektiven Können und seinen Möglichkeiten.

Ähnliches ist beim europäischen Menschen geschehen. Im Mittelalter befand sich der Mensch in der Geborgenheit Gottes. Doch das Misstrauen gegenüber Gott wuchs, nicht nur aus Angst, von Gott nicht genügend gehalten zu werden, sondern auch aus Sorge vor dem bösen, strafenden Gott. Diese Sorge wurde genährt durch die Prädestinationslehre Augustins, nach der niemand gewiss sein kann, ob er erlöst werde oder für die Erbsünde büssen müsse. Der Konflikt zwingt den Menschen, sich mit Gott zu identifizieren, um dem Problem auszuweichen. Ein schönes Beispiel dafür sei Descartes mit seinem berühmten Satz "Cogito, ergo sum - Ich denke, also bin ich!" Horst E. Richter sieht darin eine intuitive Entscheidung, in der das Ich seine Selbstgewissheit obenan setzt und somit Gott entmachtet. Aber die Angst vor der Rache Gottes für diese Entmachtung ist bei Descartes noch so groü, dass er alle Mühe darauf verwenden musste, die ungeheure Anmassung des individuellen Ich nicht nur als Gott gewollt, sondern geradezu als von Gott her bestimmt zu interpretieren. Er führt die Idee, von der individuellen Selbstgewissheit alle weiteren Erkenntnisse ableiten zu können, ursüchlich auf Gott zurück: Die höchste Klarheit und Deutlichkeit, mit der das individuelle Ich seiner selbst bewusst ist, könne nur von Gott dem Menschen eingegeben worden sein. Und da Gott gut sei, müsse auch alles wahr sein, was an ähnlich klaren und deutlichen Vorstellungen im Ich vorhanden ist. Denn der gute Gott könne uns ja nicht täuschen wollen. Horst E. Richter folgert daraus: "In Wirklichkeit vertraut dieser Beweis nicht auf Gott, sondern auf die Unfehlbarkeit des eigenen Intellekts".

Bei der Darlegung von Horst E. Richter gibt es ein Problem: So behauptet er, der Europäer habe sich mit den göttlichen Eltern identifiziert. Ich habe aber noch nie gehört, dass wir göttliche Eltern haben sondern bloss einen göttlichen VATER. Das heisst die Mutter ist ins kollektive Unbewusste verdrängt, wie die Schule von C. G. Jung ausführlich behandelte. C. G. Jung lehrt, weil der göttliche Vater im kollektiven Ich-Bewusstsein verankert ist, kompensiert die Mutter diesen im kollektiven Unbewussten.

Wenn sich das europäischen Ich mit dem göttlichen Vater identifiziert, hat er auch die gleiche Struktur wie dieser. Und das heisst dann auch die gleichen Problemen. Und wie die Probleme aussehen, die Gott hat, können wir im Alten Testament nachlesen: Er ist der Schöpfer seiner Welt, eine andere Welt duldet er nicht. Und in seiner Welt ist er Herrscher und setzt seine Normen brennend und mordend durch. Wie ich in in meiner Interpretation zu Ezechiel 16 zeige, bekämpft er das archetypisch Weibliche, dessen fascinosum-tremendum Gott nicht gewachsen ist. Und genau dieses Problem hat auch der Abendländer. Nehmen wir zum Beispiel seine Frauenfeindlichkeit, die von Beginn der Neuzeit bis weit ins 20. Jahrhunderts dauerte. Doch auch sein Verhältnis zur Natur und zur Welt, beides in seiner Seele Symbole der Grossen Mutter, sind Ausdruck dieser fascinosum-tremendum: Er will die Natur erforschen und durch seine Technik beherrschen, er schafft sich seine Welt und zerstört dabei gleichzeitig die ihn tragende Natur.

Letzte Revision am 30.05.2014