AUFSÄTZE ZU EINER GANZHEITLICHEN THEOLOGIE

Esther Keller-Stocker

Das Kind

Während meines Studiums hatte ich meine liebe Mühe mit der Theologie. So sagte ich einmal zu einem Professor, in der Theologie gibt es kein Fundament, es sind nur Luftschlösser. Wie soll ich das erklären? – Vielleicht mit der Radiopredigt, die ich zu jener Zeit gehört habe. In dieser Predigt sprach ein Mann von einem Koan aus dem Zen-Buddhismus, das lautet: Da ist ein Fluss, aber keinen Steg und keine Brücke – wie komme ich ans andere Ufer? Der Prediger im Radio meinte: Man nehme das Kreuz und lege es über den Fluss! Und dann könne man getrost hinübergehen. – Ich war schockiert, welche Anmassung! - Er blufft! – die Antwort muss doch lauten: Das Wasser teilt sich!

 Während meines Studiums besuchte ich ein Seminar über die Theologie von Karl Barth. Seine Theologie sei wie eine Kathedrale, schwärmte der Professor, ein verständiger Mann, der lange im Ausland weilte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars besuchten auch das Haus von Karl Barth auf dem Bruderholz in Basel. Vom Keller zwängten wir Studenten uns die enge Treppe hinauf in die Wohnung, mit kleinem dunklen Gang ins Arbeitszimmer des berühmten Theologen. In diesem Haus lebte er also mit Frau, Geliebte und fünf Kindern!

Am Nachmittag desselben Tages besuchten wir in Riehen das weltberühmte Museum „zur Goldenen Schrift“. Das Museum wurde an einen Hang gebaut. Im dritten Stock war der Haupteingang. Wir traten in eine Wandelhalle. Von oben sahen wir hinunter auf ein Wasserbecken, das aussah wie in ein Hallenbad. Oben betraten wir den Ausstellungsraum „der Theologe“. Wir spazierten von Vitrine zu Vitrine und schauten uns die Schriften an, die in purem Gold gefasst waren. Die Gruppe war schon weg, doch ich versuchte, die Schrift zu lesen. Die einzelnen Wörter waren gut verständlich, aber das Ganze machte keinen Sinn – lauter wirres Zeug. Enttäuscht ging ich aus dem Raum, die Treppe hinunter zum Wasserbecken. Ich hatte Lust hineinzuspringen, wusste aber nicht, ob das erlaubt war. Auf der Seite hatte es einen Notausgang, durch den ich mich ins Freie schlich.

Da stand mein Ehemann und schimpfte drauflos: „Endlich kommst Du, ich habe schon den ganzen Tag auf dich gewartet!“ – Trotz seines Ärgers freute ich mich, denn wie gross musste seine Liebe sein, wenn er hier stundenlang auf mich wartete – an diesem Ort, an dem ein Bagger stand und die Erde aufgewühlt war. Hier sollte wohl ein neues grosses Gebäude entstehen, dachte ich. Wir rutschten mehr den Hang hinunter als das wir gingen. Wir waren in Eile, denn wir mussten unser Kind am Bahnhof abholen. Der Strasse entlang eilten wir zum nächsten Bahnhof, aber da war kein Kind. So gingen wir zum nächsten Bahnhof, aber sie war auch nicht da. So klapperten wir einen Bahnhof nach dem anderen ab, aber nirgends fanden wir unser Kind. Die ganze Nacht gingen wir, alles der Strasse entlang – es war so dunkel, so trostlos. Als der Morgen dämmerte, sahen wir von weitem einen weiteren Bahnhof. Wir eilten hin und gleichzeitig fuhr der Zug ein. Eine Tür ging auf und Annelies, die herzensgute Krippentante stieg aus und fing unsere zweijährige Tochter auf, die ihr fröhlich die Ärmchen entgegenstreckte. – Wir sind angekommen.

 

Bearbeitet am 9. April 2016
Autorin: Esther Keller-Stocker, Schweiz