I. Thessalonicher 1

von Esther Keller-Stocker

Paulus und der patriarchale Schatten

Übersetzung

1. Paulus und Silvanus und Timotheus an die Gemeinde der Thessalonicher in Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Gnade sei mit euch und Friede.

2. Wir danken Gott immerzu im Blick auf euch alle, wenn wir in unserer Fürbitte an euch denken. 3. Unaufhörlich haben wir im Gedächtnis, wie sich euer Werk im Glauben und eure Arbeit in der Liebe und eure Ausdauer in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus in der Geduld vor Gott, unserem Vater, erwiesen hat. 4. Wir wissen von Gott, geliebte Brüder, um eurer Erwählung. 5. Die Heilsbotschaft, die wir euch verkündet haben, ist nicht allein im Wort zu euch gekommen, sondern auch in Kraft und im Heiligen Geist und in grosser Fälle. Wie ihr wisst, sind wir auch auf diese Weise bei euch um euretwillen aufgetreten. 6. Und ihr habt es uns und dem Herrn nachgetan, habt die Botschaft in grosser Drangsal mit der Freude des Heiligen Geistes angenommen. 7. Und seid so zum Vorbild für alle Glaubenden in Mazedonien und Achaia geworden. 8. Denn von euch aus ist die Botschaft des Herrn erschollen; nicht allein in Mazedonien und Achaia, sondern an jeden Ort ist euer Glauben an Gott hinausgedrungen; wir brauchen davon selbst nichts zu berichten. 9. Sie selbst nämlich erzählen von uns, welchen Eingang wir bei euch gefunden haben, wie ihr euch von den Göttern weg Gott zugekehrt habt, um den lebendigen und wahren Gott zu dienen. 10. Und aus den Himmeln seinen Sohn zu erwarten, den er von den Toten auferweckt hat, Jesus, unseren Retter vor dem zukünftigen Zorn.

I. Thessalonicher 1,1 - Anrede

Paulus und Silvanus und Timotheus an die Gemeinde der Thessalonicher in Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Gnade sei mit euch und Friede

Paulus schreibt den Brief um das Jahre 50 oder 51aus Korinth (1) an die christliche Gemeinde in Thessaloniki, die er kurze Zeit vorher gegründet hat. Er ist Autor des Briefes, obwohl er seine Mitarbeiter Silanus und Timotheus gleichberechtigt neben sich erwähnt (2). Die Gemeinde spricht Paulus mit dem bedeutungsvollen Begriff Ekklesia an.

Ekklesia ist in der Septuaginta ein fester Ausdruck für das von Gott erwählte und versammelte Volk Israel. In diesem Sinne fand ekklesia auch im apokalyptischen Judentum seinen Niederschlag. Symbolisch verstand man dieses Gott-Volk-Verhältnis als Ehebund, Gott als väterlicher Eheherr, das Volk als töchterliche Ehefrau. Die Problematik dieser Verbindung bestand darin, dass Gott seine Ehefrau ständig der Untreue bezichtigt, ohne dass der Leser/die Leserin je eine Gegendarstellung der Beschuldigten erhält. Paulus übernimmt das Schema des Ehebundes für das Verhältnis Gottes zu den christlichen Gemeinden mit dem Anspruch, dass durch das Sühnopfer Christi die christlichen Gemeinde im Sinne von Kirche die wahre Braut Gottes (3) ist.

Dieses vom Alten Testament vorgegebenen symbolische Verhältnis erläutert Paulus in Epheser 5 wie folgt:

- Ordnet euch einander unter in der Frucht Christi!

- Ihr Frauen gehorcht euren Männern, so wie ihr dem Herrn gehorcht. Denn der Mann ist das Haupt, das über die Frau regiert, wie Christus das Haupt ist, das über die Kirche regiert: Er ist der Erlöser seines Leibes. Wie die Kirche Christus untertan ist, so auch die Frauen in allem ihren Männern. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Kirche geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, um sie heilig und rein zu machen durch das Wasserbad im Wort. So wollte er die Kirche in strahlender Herrlichkeit als seine Braut sich zuführen, ohne Flecken, Runzeln oder dergleichen; heilig und ohne Fehl sollte sie sein. So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Denn niemand hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er hegt und pflegt ihn wie auch Christus die Kirche: und wir sind Glieder an seinem Leibe. (Epheser 5,21-30).

Die Kirche ist symbolisch die Braut Christi, schön und jung ist sie und Untertanin Christi sowie Frauen Untertanen ihrer Männer sein sollen. Und in dieser hierarchischen Struktur sieht sich auch Paulus als Mann und Gebieter seiner Gemeinden. Diesen Anspruch begründet er mit dem Anspruch, von Christus und von Gott in besonderer Weise auserwählt zu sein:

Paulus, Apostel, nicht von Menschen gesandt, auch nicht durch einen Menschen eingesetzt, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat (Galater 1,1).

Er sieht sich aber nicht nur als Stellvertreter Christi und Gott sondern auch als Erzeuger seiner Gemeinden. Die Gemeindemitglieder sind seine Kinder, wie er in I. Korinther 4,14 betont.

Das schreibe ich euch nicht, um euch zu beschämen, sondern um euch als meine geliebten Kinder zu ermahnen. Denn wenn ihr auch zehntausend Erzieher in Christus hättet, so habt ihr doch nicht viele Väter. Ich allein bin es gewesen, der euch in Christus Jesus durch die Verkündigung der Heilsbotschaft gezeugt (4) hat. So ermahne ich euch: Nehmt mich zum Vorbild! Darum habe ich Timotheus zu euch entstand, meinen geliebten und getreuen Sohn im Herrn. Er soll euch daran erinnere, welche Wege ich euch in Christus Jesus gewiesen habe, so wie ich sie Überall in jeder Gemeinde lehre. (Vgl. I. Korinther 10,32).

Als geistiger Vater der Gemeindermitglieder preist er sich auch als Massstab und Vorbild christlicher Gesinnung an. Sein Selbstbild ähnelt dem seines Gottes, er identifiziert sich mit Gott und tritt an dessen Stelle. Er ist also selber der aufgeblasene Pharisäer, den er in seinen Schriften kritisiert.

In der Treue zu seinem kulturellen Hintergrund hatten Frauen auch nie Platz als ebenbürtige Mitglieder. Zwar kann er in seltenen einzelne Frauen namentlich in hohem Masse loben, wenn er von ihnen abhängig war, doch seine Grundhaltung kommt in I. Korinther 14,33-36 zum Ausdruck:

Wie in allen Gemeinden der Heiligen, sollen die Frauen in den Gemeindeversammlungen schweigen. Denn es ist ihnen nicht gestattet, das Wort zu ergreifen. Sie sollen sich unterordnen, wie es ja auch das Gesetz sagt: Wenn sie etwas lernen wollen, sollen sie zu Hause ihre Männer fragen. Denn es ist schimpflich für eine Frau, in der Gemeindeversammlung zu reden. Oder hat etwa von euch das Wort Gottes seinen Ausgang genommen, oder ist es allein zu euch gekommen?(I. Korinther 14,33-36)

Auch sollen Frauen die Haar lange tragen oder besser noch mit einem Schleier verhüllen:

Urteilt doch bei euch selbst: Schickt es sich für eine Frau, unverschleiert zu Gott zu beten? Lehrt euch nicht einfach die Natur, dass es für den Mann eine Schande ist, wenn er langes Haar, für die Frau dagegen eine Ehre, sich das Haar lang wachsen zu lassen? Denn das lange Haar ist ihr zu Verhüllung gegeben. Doch wenn es einer darüber zum Streit kommen lassen will -: Bei uns hat eine solche Sitte keine Geltung, auch nicht in den Gemeinden Gottes! (I. Korinther 11,13-16)

Trotz der Frauenfeindlichkeit gibt er sich auch immer wieder versöhnlich: So soll über die Verhüllung eines weiblichen Kopfes kein Streit entbrennen. Oder im ersten Beispiel, wo sich die Frauen den Männern unterordnen sollen, mildert Paulus die Äusserung ab durch die Vorstellung der "Liebe":

So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst (Ephesus 5,30).

Bloss, was heisst Liebe für einen Patriarchen? Liebe eingebettet in einem Machtgefüge von Gebieter und Untergeordnete bleibt ein Instrument der Unterwerfung und der Schuldzuweisung. Dies zeigt sich auch im I. Brief an die Thessalonicher: Anfänglich beschreibt er eine schöne harmonische Beziehung zwischen ihm und seiner Gemeinde, die im Osten des Römerreiches auch schnell Früchte trägt. Doch dann plötzlich lässt er an seiner "Braut" kein gutes Haar mehr, er schikaniert sie praktisch zu Tode, wie einst der alttestamentliche Gott sein Volk Israel ständig zu Tode bedrohte.

Da stellt sich die Frage: Warum hat der liebe Gott sein Volk nicht wirklich zerstört? Aus göttlicher Gnade! Und worin ist diese göttliche Gnade begründet? Aus der tiefen Furcht, von niemandem mehr angebetet zu werden!