I. Thessalonicher 1

von Esther Keller-Stocker

2. Zu I. Thessalonicher 1,2-10

2.1. Vom idealen Ich des Paulus

Paulus entwirft in diesem Brief die Idylle einer harmonischen Beziehung zwischen ihm und seiner Gemeinde.

Wir danken Gott immerzu im Blick auf euch alle, wenn wir in unserer Fürbitte an euch denken. Unaufhörlich haben wir im Gedächtnis, wie sich euer Werk im Glauben und eure Arbeit in der Liebe und eure Ausdauer in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus in der Geduld vor Gott, unserem Vater, er-wiesen hat (V. 2f.)

Die Überschwenglichkeit in V. 2-3, die zweimalige Betonung von "unaufhörlich" (panto-te/adialeiptos) hat etwas Massloses, etwas, das geeignet ist, unbewusste Unsicherheit, Angst und Zweifel zu kompensieren. Und dieses Masslose bewegt sich unaufhörlich um seine Person. Er ist das Ideal, dem sich die Gemeinde anzupassen hat, expliziert z.B. in I. Thess. 4,1:

Im übrigen, Brüder, bitten und ermahnen wir euch im Herrn Jesus: Ihr habt von uns die Lehre angenommen, wie ihr euren Wandel führen und Gott gefallen sollt - und ihr wan-delt ja auch entsprechend -: So sollt ihr nun darin noch weitere Fortschritte machen.

In I. Thessalonicher 1,2-3 wird das Verhalten des Glaubens zur Leistung, denn immerwährendes Dankgebet und unaufhörliches Erinnern ist harte men¬tale Arbeit. Und zur Leistung gehört Lohn, den er in diesem Kapitel hartnäckig für sich beansprucht.

In V. 4-5 freut sich Paulus ob der göttlichen Erwählung der Gemeinde. Sie erfüllt den alttestamentlichen Traum der gehorsamen, leidensstarken Braut, die sich ganz dem Willen ihres göttlichen Ehemannes unterordnet.

Wir wissen, von Gott geliebte Brüder, um eurer Erwählung. Die Heilsbotschaft, die wir euch verkündet haben, ist nicht allein im Wort zu euch gekommen, sondern auch in Kraft und im Heiligen Geist und in grosser Zuversicht; wie ihr wisst, sind wir auch auf diese Weise bei euch um euretwillen aufgetreten (V. 4-5)

Doch wer bestimmt eigentlich, dass die Gemeinde der Thessalonicher von Gott erwählt ist? Paulus! Er bleibt aber dabei nicht stehen, sondern flicht im gleichen Atemzug seine Predigttätigkeit als die von Gott abgesegnete Leistung ein. Von der vorbildlichen Frömmigkeit manifestiert er sich nun im gleissenden Licht göttlicher Erwähltheit.

2.2. Vom Heiligen Geist

Mit dem "Heilige Geist" (V. 5) kommt eine andere Dimension Gottes ins Spiel, die Dimension des Weiblichen. Zwar ist „Geist" auf Griechisch ein Neutrum (to pneuma), doch im Hebräischen weib-lich (Ruah) gedacht. Auch sind sich heutige Herausgeber jüdischer und judenchristlicher Apokry-phen darin einig, dass der hellenistische Jude unter „Heiligem Geist“ eine weibliche Grösse verstand. Wie in Römer 3,24-26 gezeigt, hat Paulus die Frauen am Grab, die er nicht als Zeugen und Autorität anerkennen konnte, durch den „Heiligen Geist“ ersetzt, welcher seinerseits auch wieder durch das Neutrum (to pneuma) verschleiert ist. Gott, Christus und Heiliger Geist stellen also eine unbewusste männlich-weibliche Ganzheit dar, die in dreigestaltiger Einheit ihre heilvollen Beziehungen zur irdi-schen Welt knüpfen. Doch nun tut sich abrupt die Kehrseite auf:

Und ihr habt es uns und dem Herrn nachgetan,
habt die Botschaft in grosser Drangsal
mit der Freude des Heiligen Geistes angenommen (V. 6)

2.3. Die Bedeutung der Drangsal

Die Drangsal der bedrohlichen Welt gehört unvermeidlich als Kehrseite zum lichten Gebilde göttlicher Einheit, die auch bei Paulus in unergründlich numinosen Bereich mündet, den er Satan nennt (I. Thess. 2,18). So haben wir hier das Urbild der Vereinigung des göttlichen Paares inmitten destruktiver Kräfte, welche sich hier auf irdischer Ebene in der Beziehung des Paulus und der Gemein-de spiegelt. In der Folge kämpft Paulus gegen diese bösen Mächte, er ist der Held, welcher für das Gute, Edle und Göttliche einsteht, während die umworbene Gemeinde im Laufe seines Briefes im-mer mehr in den Bannkreis der bösen Mächten gerät.

Damit ist nicht gesagt, dass die Verfolgungen gegen Paulus nicht real gewesen wären. Doch hatte er sie zum Teil auch willentlich provoziert. So wäre das Auftreten eines fremden unbekannten Wanderpredigers auch bei uns suspekt. Und dass eine neue Lehre immer Misstrauen weckt, hätte ihm auch klar sein sollen. Die im Brief erwähnte Drangsal hatte Paulus in Philippi widerfahren. Nach der Legende in der Apostelgeschichte 16,14-40 soll Paulus einer wahrsagenden Sklavin den Geist ausgetrieben haben und darauf vom Herrn der Sklavin angezeigt worden sein. Die Befehlshaber liessen ihn auspeitschen und ins Gefängnis werfen. In der Nacht erfolgte ein Erdbeben, worauf der Kerker-meister ein gläubiger Christ wurde. Eigenartigerweise gibt sich Paulus erst am frühen Morgen dem Richter als römischer Bürger zu erkennen (Apg. 5,37f.). Die Auspeitschung eines römischen Bürgers war aber ohne Urteil verboten. Weshalb hat Paulus aber nicht am vorherigen Tag vor der Auspeit-schung gesagt, dass er römischer Bürger sei? Mir scheint, solche Missverständnisse waren bei Paulus unbewusst disponiert. Denn so gleicht sich sein Schicksal dem von Jesus an, jedoch war das Schick-sal Jesu einmalig, das des Paulus mehrmalig. Bei Paulus werden Provokation, Verfolgung und Be-strafung zum Ritual, in dem er das Kreuzesgeschehen immer wieder als etwas Unfassbares heraufbeschwört, das ihn zu verschlingen droht. Doch die Gefahren und Bedrohungen waren konkrete Ereig-nisse, sie hatten Konturen, die er bekämpfen als auch ins Bewusstsein integrieren konnte.

2.4. Die Gemeinde

Darauf findet er überaus lobende Worte für die Erfolge der Gemeinden in Mazedonien und Achaia (V. 7). Da er seine Beziehung zur Gemeinde als irdisches Abbild der Beziehung Gottes zu seinem Volk sieht, schimmert in seiner Anerkennung der Leistungen der Gemeinde eine Art Integration des Weiblichen durch. Doch diese Integration ist wie beim „Heiligen Geist“ unbewusst, die Leistung des kollektiven Unbewussten, die ihn durch die „geliebten Brüder“, die ja symbolisch die „Braut Chris-ti“ darstellen zur Auseinandersetzung mit dem archetypischen Weiblichen zwingt. Sie haben die Botschaft vom Kreuzestod und der Auferstehung Jesu Christi über die politischen Grenzen hinausgetragen:

Denn von euch aus ist die Botschaft des Herrn lauf erschollen;
nicht allein in Mazedonien und Achai,
sondern an jeden Ort ist euer Glauben an Gott hinausgedrungen;
wir brauchen davon selbst nichts zu berichten.

Beim Lob der Leistung der Gemeinde greift er das im Neuen Testament nur hier stehende Begriff execheisthai (laut hinausschallen) auf. Die Verkündigung des Herrn ist die Verkündigung dessen Tod und Auferstehung. Und nach den Berichten der Evangelien waren die Frauen die einzigen Jünger, die sowohl beim Tod und bei der Auferstehung zugegen waren. Sie verkündeten als erste verängstigt und heimlich. Im Gegensatz zu ihnen verkündeten die Gemeinde in Gestalt der geliebten Brüder die Botschaft des Herrn und das Echo darauf ist gewaltig. Doch das Ziel der Heilsbotschaft ist ja die Errettung vor dem Zorne Gottes, die die ungeheure Resonanz zum Bewusstsein bringt, aber damit auch die Bedrohung selber, der Zorn Gottes. Und ich denke, gerade die Bedrohung selber zwingt Paulus zurückzustufen und auf den schwächeren Begriff exerchomai (hinausgedrungen) aus-zuweichen, um dann abrupt abzubrechen:

„wir brauchen davon selbst nichts zu berichten“.

Doch nun kommt das Ungeheuerliche, statt sich an der Leistungen der geliebten Brüder zu freuen, setzt er seine eigene vorbildliche Leistung:

Sie selbst nämlich erzählen von uns, welchen Eingang wir bei euch gefunden haben, wie ihr euch von den Göttern weg Gott zugekehrt habt, um den lebendigen und wahren Gott zu dienen (V. 9)

Er wiegt sich in der Vorstellung, von keinem Menschen abhängig zu sein (Gal. 1,1), aber die Men-schen sind von ihm abhängig und so holt er die eigene Gottähnlichkeit wieder herein. Hier geht es gefälligst nicht um den Ruhm der Gemeinde sondern um seinen eigenen. Doch der Aspekt persönli-cher Eitelkeit trifft auf die verdrängte Ebene, denn der Erfolg der Verkündigung von der Auferstehung des Herrn gebührt den Frauen am Grab. Doch Paulus kann und will den Frauen diese Leistung nicht anerkennen. Nun tritt die Gemeinde an die Stelle der Frauen und ebenso mit überwältigtem Erfolg. Doch bei dieser kann er ihre Abhängigkeit von ihm geltend machen nach dem göttlich patriarchalem Muster der geistigen Abhängigkeit des Weibes vom Manne. Doch gerade das ungeheure Echo erinnert an die Posaunen, die die Bundeslade begleiteten und Jericho zu Fall brachten, es erinnert an den Fall der patriarchalen Mauer seines Ichs, das identisch ist mit dem Endgericht.

2.5. Schluss

Um diese Mauern aufrecht zu halten, zwingt er die Gemeinde wieder in ihre Schranken. Er hat sie ja gelehrt, wer der wahre und lebendige Gott ist. Doch gerade hier scheint sich der Abgrund vor seinem Ich auf dem lichten Hochplateau aufzutun, denn als nächstes klammert er sich wie ein Ertrinkender an den Sohn, an den Auferstandenen, der ihn vor dem künftigen Zorn Gottes retten soll. Mit dem Anspruch, den „lebendigen und wahren Gott“ zu verkündigen, scheint Paulus in Panik zu geraten - denn, wenn es wirklich ein lebendiger und wahrer Gott gibt, fragt man sich doch, ob dieser die Selbstverherrlichung des Paulus überhaupt mitmacht. Die Antwort lautet nein, denn unvermindert taucht der Zorn Gottes auf, vor dem ihn nur der Auferstandene retten kann.