Jesus Christ - Superstar

Eine Rock-Oper (1971)

Interpretation von Esther Keller-Stocker

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1. Judas und das
patriarchale Bewusstsein

Der Text zur Rock-Oper stammt von Tim Rice, die Musik von Andrew Lloyd Webber. Der Film "Jesus Christ - Superstar" erschien anfangs der 70er Jahren zum ersten Mal und war damals weltberühmt. Der Text von Tim Rice gehört meines Erachtens zu den besten Interpretationen des Neuen Testaments.

Die Hauptfigur ist Judas, ein begnadeter Denker. Mit seiner Analyse glaubt Judas die Wirklichkeit zu erfassen. Es ist die Wirklichkeit des Grossen Vaters. Dabei achtet er nicht darauf, dass in seiner Sprache die Symbolik einer anderen Realität mitschwingt, die Realität der Grossen Mutter.

Die Hauptfigur ist Judas, ein begnadeter Denker. Mit seiner Analyse glaubt Judas die Wirklichkeit zu erfassen. Es ist die Wirklichkeit des Grossen Vaters. Dabei achtet er nicht darauf, dass in seiner Sprache eine Symbolik durchschimmert, die von einer anderen Realität handelt. Die mitschwingende Symbolik greift unsichtbare Inhalte auf, die zum Archetyp der Grossen Mutter gehört.

Die Kulisse des Films zeigt ein Ruinenfeld mitten in einer Wüste. Zu Beginn des Films fährt ein Car mit jungen Schauspielern vor, die die Passion Jesu spielen wollen. „Wüste“ ist ein zentraler Ort in der Bibel: Im Ersten Testament wandern die Israeliten durch die Wüste zum Berg Horeb zu ihrem Gott, wo er ihnen die Zehn Gebote überreichte. Im Zweiten Testament begegnete Jesus in der Wüste dem Satan (Mk 1,12f. par.). Seine Weigerung ihn anzubeten, bringt ihn letztlich ans Kreuz. Der Film greift die biblische Tradition auf und zeigt eine Wüstenfahrt in die Trümmer einer längst vergangenen Zivilisation. Anstelle des Teufels tritt Judas als erster dem Jesus entgegen.

Die vergangene biblische Zivilisation wurde beherrscht von Jahwe, einem Gott, der alles in seinem glühenden Zorn zu vernichten drohte. Das Vorbild Jahwes war der altorientalische Wüstengott Mot (Tod). Mot trocknete während dem Sommer das Land aus und versengte es, andererseits reiften Korn und Reben in seiner glühenden Hitze.

Jahwes war auch vom ägyptischen Hauptgott, dem Sonnengott Amun-Re beeinflusst. Die Strahlen des Re leuchteten die hintersten Winkeln der menschlichen Seele aus und zwangen den Menschen zu ethischem Handeln. Auch vom alttestamentlichen Gott ging eine ungeheure ethische Kraft aus, die den Menschen formte und gestaltete. Diese moralische Kraft hat auch einen zerstörerischen Aspekt: Auf menschlichen Ungehorsam reagiert er mit glühendem Zorn, der sengend und brennend ins Land zieht und den Menschen Tod und Verderben bringt.

Mot und Amun-Re waren beide Götter in ihrem jeweiligen Pantheon. Anders Jahwe, er war der einzige Gott, der keine Götter neben sich duldete. Vor der Zeit Jahwes erhob nur ein Gott den Anspruch alleiniger Gott zu sein, Aton. Dieser wurde im 14. Jahrhundert vor Christus vom ägyptischen Pharao Echnaton als einziger Gott ausgerufen (1).

Das biblische Gottesbild kam mit dem Christentum nach Europa und wurde in der Gestalt Jesus Christus zur Grundstruktur der europäischen Seele. Christus ist der lichte Weltenherrscher und der furchtbare Weltenrichter. In der Aufklärung wurde dieses Gottesbild überwunden. Er wird heute vom kollektiven Ich gelebt. So haben wir heute einerseits eine gerechtere Welt als je zuvor. Auch ist den meisten von uns ein langes Leben und ein relativer Wohlstand beschieden. Andererseits unterliegen wir der Eile und der Hetze, ein Motiv aus dem Ersten Testament. Die Identifizierung mit Gott, der in seiner glühenden Eifersucht das Land zerstört, erklärt auch unseren Energieverbrauch, der immer grösser wird und unaufhaltsam unsere Welt zerstört.

Der Film selber repräsentiert eine wichtige Funktion des einstigen Sonnengottes, die Überwachung: Einst durchleuchtete der Sonnengott mit seinen Strahlen alles bis ins Innerste. Heute sind es Kameras und Internet, die Welt und Mensch bis in ihr Innerstes, Intimsten festhalten und veröffentlichen. Die anonyme Masse von Zuschauern übernimmt die Funktion des einstigen Sonnengottes.

Unsere psychische Konstellation hat Horst E. Richter in "der Gotteskomplex" beschrieben: Der europäische Mensch lebte im Mittelalter unter der Furcht Gottes. Zu Beginn der Neuzeit begann er sich von Gott zu emanzipieren. Er überwand die Furcht vor Gott, indem er sich mit Gott identifizierte. Horst E. Richter beschreibt anhand des Philosophen Nietzsches das narzisstisch überhöhte Ich des Europäers als einsam und ohne Beziehungen. Diese Beziehungslosigkeit wird ebenfalls vom alttestamentlichen Gott vorweg genommen. Gott ist stolz darauf, der einzige Gott zu sein. Neben sich duldet er keine Götter - und vor allem keine Göttinnen. Die Göttin wurde durch das Volk Israel ersetzt. Das Verhältnis des Volkes Israel (Jerusalem, Samaria oder Juda, Israel) zu seinem Gott beschrieben Propheten in der Metapher einer Ehe. Dabei beschuldigte Gott Israel der Untreue. Und diese Untreue ahndete er mit Strafe, mit Zerstörung. Der Haken in dieser Beziehung ist, dass das Volk Israel bei diesen Anschuldigungen selber nie zur Sprache kam. Sie wurde nie gefragt, ob sie das auch so sähe. Da das Volk keine Sprache hat, sind die Anschuldigungen die Probleme des Gottes selber. Mit den Schuldzuweisungen konnte der destruktive Aspekt dieses Gottes erklärt werden.

Im europäischen Mittelalter herrschte Christus als Pantokrator und verkörperte auch die Macht des zornigen Gottes. Die Furcht vor dem zornigen Gott wurde zur Zeit der Aufklärung intellektuell überwunden. Fortan leben die Europäer die psychische Struktur des zornigen Gottes. Das heisst, die Europäer gestalten die Welt nach ihren Bedürfnissen und ihren Vorstellungen. Mit der Übernahme der göttlichen Struktur übernimmt der Europäer aber auch dessen Schatten, denn wie einst unter der Glut des eifernden Gottes das Land zugrunde richtete, droht heute die Welt in der Hitze unserer Zivilisation unterzugehen.

Der altorientalische Mensch lebte mit Mythen. Diese Mythen werden im Alten Testament teils verdrängt, teils auf das Handeln Jahwes hin uminterpretiert. Die verdrängten Mythen werden historisiert, d.h. altorientalische Göttinnen und Götter finden wir in der Bibel als Ahnmütter und Ahnväter wieder. Die Bibel ist das Buch, das zeigt, wie Gott in die Geschichte eingreift. Es ist vorwiegend eine patriarchale Geschichte mit dem einzigen Interesse, Gott Jahwe als einzige göttliche Instanz zu legitimieren. Und damit kommt der Mythos durch die Hintertür wieder zum Vorschein. Denn, dass Jahwe als HERR der alleinige, absolute Gott sei, ist auch ein Mythos.

Judas in der Rockoper "Jesus Christ - Superstar" zelebriert die patriarchale Norm, in der sich die Dominanz des Grossen Vaters spiegelt, beispielhaft. Seiner Sprache ist aber voll von Symbolen, die den Willen der Grossen Mutter kundtun. Der dominante Grosse Vater wird schattenhaft von der Grossen Mutter begleitet. Im 1. Auftritt erscheint sie völlig verdrängt und doch taucht sie in Begriffen auf, die Judas benutzt und patriarchalisch deutet.

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Interpretation von
Esther Keller-Stocker (Schweiz)
Text 1986, letzte Revision Februar 2014