AUFERSTEHUNG, TEIL 3
3. MARIA MAGDALENA
3.1. MARIA MAGDALENA UND DIE DÄMONEN
Maria Magdalena ist in einem königlichen Kleid aus Purpur gekleidet, das ihre Weiblichkeit betont. Anders die drei Frauen neben ihr, die ihren Körper traditionell in viel Stoff gehüllt haben. Maria Magdalena steht zu ihrer Weiblichkeit, trotz ihrer schmerzlichen Erfahrung als Frau in ihrer patriarchalen Welt. Lukas etwa berichtet, sie sei besessen gewesen von sieben Dämonen (Lukas 8,2). Es war der unbewusste Animus, der die patriarchale Norm ihrer Zeit in sieben Gestalten repräsentierte und sie von innen her beherrschte (19). Die sieben Dämonen waren eine Verstärkung des Patriarchets und riefen ihr zu: „Du nicht – weil weiblich!“ und trieben sie so in den Wahnsinn.
Anders Jesus von Nazareth: Wie Hanna Wolff gezeigt hat, überwandt er seine Frauenfeinlichkeit in Gesprächen mit Frauen. Da war etwa die Kanaanäerin, die Jesus für ihre Tochter um Hilfe bittet:
Und Jesus ging von dort weg und zog sich in die Gegend von Tyrus und Sidon zurück. Und da kam eine kanaanäische Frau aus jenem Gebiet und schrie: Hab Erbarmen mit mir, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon furchtbar gequält. Er aber antwortete ihr mit keinem Wort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Stell sie zufrieden, denn sie schreit hinter uns her! Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch sie kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Er antwortete: Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden hinzuwerfen. Sie sagte: Stimmt, denn die Hunde fressen ja ohnehin von den Brotbrocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist gross! Dir geschehe, wie du willst. Und von Stund an war ihre Tochter geheilt. (Matthäus 15,21-28)
Auf die Bitte der Kanaanäerin reagiert Jesus zunächst nicht. Erst auf den Rat seiner Jünger gab er sich mit ihr ab und stellte aggressiv klar, dass er als Jude gekommen sei, um Israel zu retten. Er meinte: „Schliesslich wirft man das Brot der Kinder nicht den Hunden vor“. Sie liess nicht locker und sagte: Aber die Brotsamen, die von den Herren herunterfallen, sind alleweil gut genug für den Hund! Diese vorbildlichen Demut zwang Jesus zur Umkehr und damit zur Integration seiner eigenen unbewussten Weiblichkeit (20). Mit der Integration der eigenen Weiblichkeit hatte es Jesus nicht mehr nötig, Frauen zur Projektionsscheibe der eigenen primitiven Weiblichkeit zu machen und sie zu verdrängen. Deshalb konnte er auch den dämonischen Bann über Maria Magdalena brechen. Im Auferstandenen manifestiert sich nun ihr achter Dämonen, einer der sie in liebender Hingabe begleitet und beschützt.
Unsere Gelehrten sind aber häufig darauf bedacht, ihr den Auferstandenen abzuerkennen. So schreibt Ulrich Wilckens etwa:
So deutet Markus am Schluss seines Buches an, wo die Erkenntnis, wer Jesus in Wahrheit sei, ihren legitimen Ursprung habe nicht im Munde der Frauen sondern in dem der Jünger. Die Frauen haben in ihrer Furcht die Botschaft des Engels nicht verstanden; so blieb die grosse Kunde noch verborgen. Erst durch die Erscheinung des Auferstandenen selbst ist sie offenbar geworden, und seine Jünger, Petrus an ihrer Spitze, sind es gewesen, die sie zuerst verküdigt haben! (21)
Anders schreibt Eugen Drewermann:
Daher ist gerade diese Frau aus Magdala, diese Verzweifelte, die ersten, die dem Herrn begegnet. Der „Erste“ in der Bibel ist stets der Träger, die Symbolgestalt dessen, was wesenhaft und generell für alle Menschen gilt. (22)
In unserem Bild ist das Kopftuch der Maria der am hellsten leuchtenden Punkt im Gemälde. Unweigerlich erinnert es an Paulus, der von den Frauen verlangt, einen Schleier zu tragen. Als Begründung gibt Paulus an, dass das Haupt jedes Mannes Christus sei, das Haupt der Frau aber der Mann.
Männer entehren ihr Haupt, wenn sie beim Beten oder aus Eingebung reden. Umgekehrt ist es bei der Frau, sie soll beim Beten oder wenn sie aus Eingebung redet, das Haupt verhüllen.
Seine Begründung:
Der Mann ist das Abbild Gottes, die Frau aber nur das Abbild des Mannes, weil die Frau um des Mannes willen erschaffen wurde und nicht umgekehrt.
Doch dann bricht Paulus ab, sich wohl der christlichen Gleichheit besinnend und argumentiert das Tragen des Schleiers anders:
Deshalb soll die Frau eine Macht (d.h. Schleier) auf dem Haupte haben um der Engel willen. Doch ist im Herrn weder die Frau ohne den Mann noch der Mann ohne die Frau (23).
Das Bild von Fra Beato Angelico erscheint im Vergleich zur Forderung des Paulus wie eine Provokation, wie wenn er dessen Anspruch ins richtige Licht setzen müsste: Gerade im Verborgenen, unter dem Kopftuch (Schleier) einer Frau verbirgt sich der Ursprung des Auferstandenen, ohne den auch Paulus seine Theologie nicht hätte schreiben können.
3.2. MARIA MAGDALENA UND DIE WEISHEIT
Maria Magdalena verkündet als erste den Auferstandenen und damit eine neue göttliche Schöpfung (24). Demzufolge vertritt sie Gott auf Erden. So wird auch die alttestamentliche, antikjüdische Weisheit, Chokmah, interpretiert. Diese verkörpert das göttliche Gesetz und letztlich Gott selber auf Erden. König Salomo betet:
Strahlend und unverwelklich ist die Weisheit; leicht wird sie erschaut von denen, die sie lieben, und gefunden von denen, die sie suchen.
(Weisheit Salomos, 6,12)
Strahlend steht auch Maria Magdalena hinter dem Sarg. Der Mönch/Petrus sieht sie als einziger und kniet vor Ehrfurcht am Boden. Aus seinem Blickwinkel stellt sie seine Anima dar, die weibliche Lichtgestalt, die Manifestation der göttlichen Weisheit:
Alles, was es nur Verborgenes und Sichtbares gibt, erkannte ich; denn die Werkmeisterin aller Dinge, die Weisheit, lehrte es mich. In ihr wohnt ein vernunftvoller, heiliger Geist, einzigartig, mannigfaltig und fein, beweglich, klar und unbefleckt, zuverlässig und unverletzlich, dem Guten zugetan und kraftvoll, unhemmbar, wohltätig. (Weisheit Salomos 7,21f.)
Maria Magdalena findet sich im Verborgensten, im Totenreich, wo sich kein Mensch freiwillig aufhält. Dorthin folgt ihr der Mönch, um nicht den Auferstandenen zu sehen sondern sie und ihre Verkündigung.
Von der Botschaft der Weisheit heisst es:
Sie erstreckt sich machtvoll von einem Ende (der Welt) zum anderen und durchwaltet das All aufs beste. (Weisheit Salomos 8,1)
Und genauso erstreckt sich die Botschaft Maria Magdalenas über die ganze Welt. Doch sie und ihr Wissen weilen im Verborgenen, weil vom patriarchalen Bewusstsein nicht akzeptiert.
Die Weisheit ist als wunderschöne göttliche Frau vorgestellt, die man in ihrem Glanze bewundert. Sie ist die weibliche Manifestaton des Höchsten. Im Alten Testament wird das weiblich Göttliche konkretistisch als Volk oder Frau erfahren. In Gestalt der Weisheit ist sie Vermittlerin zwischen Gott und dem Menschen. Auf alle Fälle ist sie genauso ein Seelenbild wie das männlich Göttliche. So bildet die Weisheit mit Jahwe in Sprüche 8 ein Paar. So heisst es:
Von meiner Jugend an habe ich die Weisheit geliebt und gesucht;
ich begehrte sie als meine Braut heimzuführen,
und wurde ein Liebhaber ihrer Schönheit.
Ihren edlen Ursprung tut sie dadurch kund,
dass sie mit Gott in vertrautem Verkehr steht,
und der Herr des (Welt-)Alls liebt sie.
Sie ist ja eingeweiht in Gottes Wissen
und trifft die Auswahl unter seinen Werken. (Weisheit Salomos 8,2-4).
Auch im Bild von Beato Angelico wird Maria Magdalena mit dem Auferstandenen als Paar dargestellt. Dies ist an den Schleifen um die beiden Körper ersichtlich. Die eine Schleife umhüllt die beiden Körper (roter Pfeil). Die Schleife des Auferstandenen geht von rechts nach links, also von der bewussten Seite weist sie ins Unbewusste. Die konkrete Person Jesus wird im Tode zum Auferstandenen. Die Schleife bei Maria Magdalena umhüllt sie von oben links nach unten rechts, sie kommt also aus der himmlischen Sphäre des Unbewussten in die Realität (gelber Pfeil).
3.3. MARIA MAGDALENA VOR DEM OFFENEN SARG
Maria Magdalena vor dem offenen Grab im Zentrum des Bildes erinnert an den Hohepriester in III. Mose 16. Dieser tritt einmal im Jahr, am Versöhnungstag, vor die Bundeslade im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels. Im Gegensatz zum Hohenpriester tritt Maria Magdalena nur einmal in ihrem Leben und für die gesamte Christenheit einmalig für alle Ewigkeit vor den offenen Sarg.
Nach dem Priesterkodex war die Bundeslade mit einem Sühnedeckel, hebräisch kapporeth, verschlossen. Maria Magdalena steht aber vor dem offenen Sarg. Sie hat keinen Deckel nötig, den sie vor dem Abgrund des Sarges und damit vor der Todessymbolik der Grossen Mutter schützt. Denn der eigentliche Abgrund ist für sie das Patriarchat mit seinen Dämonen.
Der Hohepriester bringt Opferblut vor die Gotteslade und besprengt sie damit. Das Blut ist das magische Elixier, das zur Sühne vor der Ladegottheit gesprengt wurde zur kultischen Reinigung der Priesterschaft, des Volkes und des ganzen Tempelareals. Maria Magdalena benötigt kein Blut. Sie geht hin mit leeren Händen, sie selber ist Opfer, daran erinnert auch ihr rotes Kleid. Dieses weist auch auf ihre monatlichen Blutung hin, an ihre kultische Unreinheit, die es ihr aus patriarchaler Sicht verbietet, an dieser Stelle zu stehen. Doch all diese Klischees weichen vor der neuen Gottesidee zurück. So schreibt man dem auferstandenen Jesus auch die Heilung der blutflüssigen Frau zu (25). So ist die richtige Einstellung vor dem Sarg Hingabe, die den Tod überwindet und nicht Ämter und Autoritäten, die sich Männer gegenseitig zusichern.
Statt das Opferblut bringt Maria Magdalena also sich selber, ihre Hingabe und ihren Mut mit vor das offene Grab und wagt es auch ihre Hand auf dessen Rand des Sarges zu legen, um in die unergründliche Tiefe des Todes zu schauen. Offensichtlich tritt sie mit der richtigen Einstellung an das Grab, denn sie stirbt nicht wie die beiden Söhnen Aharons, die mit falschem Feueropfer vor Jahwe getreten und dafür vom Zorn Gottes getötet wurden (26). Auch nicht wie der Priester Uzza, welcher die Lade vor ihrer Zerstörung stützen wollte (27) und dabei umkam.
Maria Magdalena vor dem offenen Grab erinnert auch an das Hymnusfragment in Römer 3,25: Dort wird Christus mit dem Sühnedeckel (griechisch Hilasterion) im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels verglichen. Nach dem Hymnus ist der Sühnetod Jesu am Kreuz für alle sichtbar geworden. - Doch historisch gesehen schauten von der Anhängerschaft Jesu nur die Frauen hin. Dies wird im Hymnus verschwiegen. Sein Fokus orientiert sich ausschliesslich am alttestamentlichen Sühnedeckel (Kapporeth), der von männlichen Theologen formuliert wurde. Genauso ist die neue Botschaft patriarchal nur genehm, wenn sie Männer wie Paulus als «mein Evangelium» predigen und dabei die Frauen ausschliessen.
Als der neue Hohepriester vertritt Maria Magdalena im Bild auch das Ursprüngliche, das im biblischen Wort Aaron «Lade» zum Ausdruck kommt. Denn nicht nur die Bundeslade heisst Aaron sondern auch der alttestamentliche Hohepriester (III. Mose 16), und der Jebusiterpriester in Jerusalem (II. Sam. 24) wird ebenso mit denselben Konsonanten gebildet. Die drei Begriffe sind sich so ähnlich und erinnern an den Ortsnamen Arinna im fernen Anatolien, dem Hauptsitz der hethitischen Sonnengöttin, der obersten Staatsgottheit des Hethiterreiches. Wie Peter Porzig in «die Lade Jahwes im Alten Testament» zeigt, suchten die Theologen, die das Alte Testament geschrieben hatten, die Bedeutung der Lade immer mehr zu bagatellisieren. So schreibt er etwa:
Im Grunde erfüllt hier wie dort die Lade, die Funktion eines Götterbilds, das es für die exilisch-nachexilische Theologie verständlicherweise nicht gegeben haben darf (S. 27).
Meines Erachtens steht hinter der alttestamentlichen Bundeslade die oberste hethitische Staatsgöttin, die Sonnengöttin von Arinna. Denn die israelitischen Stämmen formierten sich im 13. Jahrhundert v. Chr., zu einer Zeit, in der sich das hethitische Grossreich und Ägypten sich zusammengerauft hatten. So ist historisch für das 14. und 13. Jahrhundert vor Chr. folgendes festzuhalten:
- Der hethitische Grosskönig Šuppiluliuma I. griff die Ägypter im Norden Kanaan an und schleppte mit den Kriegsgefangenen die Beulenpest in Anatolien ein (28).
Beim Überfall der Hethiter in die ägyptischen Garnisonen dürften Personen aus dem hethitischen Heer vor den Kranken nach Palästina geflohen sein. Die Ägypter waren bekannt,
dass sie geflohene Feinde an ihre Aussengrenzen ansiedelten. So dürften die geflohenen hethitischen Adligen von der ägyptischen Behörden als Stadtfürsten in Palästina eingesetzt worden sein,
in Städten wie Silo, Bethel, Sichem und Jerusalem, in denen nach alttestamentlichen Überlieferungen «Aaron («Lade») stand, respektive ein Jebusiterkönig Araunah «seinem Gott» opferte
(29).
Der Enkel von Šuppiluliuma I. - Ḫattušili III. - verfolgte als oberster Befehlshaber nach der Schlacht von Kadeš (1274 v. Chr.) die Ägypter bis nach Damaskus (30). Auch von hier aus dürften einige Hethiter in Kanaan/Palästina geblieben sein, zumal in Anatolien das Klima immer kälter und trockener wurde. Wie prekär die Situation in Zentralanatolien war, geht aus dem berühmten Hilferuf der Grosskönigin Puduhepa an Ramses II. hervor: «Ich habe kein Getreide in meinem Land» (31). - Die oberste Staatsgöttin der Hethiter war die Sonnengöttin von Arinna, was sogar Francis Breyer zugeben muss (32).
Von den hethitischen Adligen, die in Kanaan als Stadtfürsten eingesetzt wurden, war sie wie in Anatolien die oberste Landes- und Königsmutter.
So nennt sich Ḫattušili III.: «Der Tabarna Ḫattušili, der Grosskönig, der König des Landes Ḫattuša, der Held, der Geliebte der Sonnengöttin von Arinna»
(33).
Auch im alttestamentliche Hohenlied handelt es sich um eine Göttin und ihren Sohngeliebter. Und darin wird der Held von seiner göttlichen Mutter zum König gekrönt (Hl. 3,6-11). Dass die Sonnengöttin von Arinna sich hier kanaanäische Züge aneignete, dürfte auch klar sein. - Schaschu-Beduinen stellten einen grossen Teil der frühen Israeliten (34). Im 13. Jahrhundert v. Chr. standen sie sowohl im Dienst der Ägypter als auch der Hethiter. Einige Schaschu-Männer waren es auch, die dem Pharao Ramses II. falsche Informationen lieferten, sodass sich dieser in falscher Sicherheit wähnte und Kadeš sofort angriff.
- Gegen Ende des 13. Jahrhunderts erfasste die klimatische Katastrophe (35) den ganzen Mittelmeerraum, und Flüchtlinge von Norden wanderten Richtung Ägypten. - Da stellt sich die Frage, wie sich die Leute auf dieser langen Strecke ernährt hatten: Ich denke an die riesigen Schaf- und Ziegenherden, die für die Opfer an die Göttinnen und Götter benötigt wurden. Solche Tiere konnten leicht mitgeführt werden. Und im Kampf ums Überleben waren sicher immer wieder Kleinvieh entlaufen, irrten herum und wurden von den Flüchtlingen eingefangen. - In Kanaan angekommen, suchten sie am ehesten Unterschlupf in hethitisch regierten Gebieten.
3.4. DAS KOPFTUCH DER MARIA MAGDALENA
Aus dem schneeweissen Kopftuch Maria Magdalenas erhebt sich der Gedanke Maria Magdalenas wie eine Sonne. Der Künstler Beato Angelico verknüpft das Kopftuch intuitiv mit der ursprünglichen Gottheit der 12 Stämme Israels, der Aaron ha-Berith (der Bundeslade). Die Vorstellung von der Bundeslade ist jedoch nicht vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im 6. Jh. v. Chr. nachzuweisen. Sie soll die ursprüngliche Gottheit verdrängen, nämlich die Sonnengöttin von Arinna. Bei Fra Beato Angelico mag auch die alteuropäische Sonnengöttin eingeflossen sein.
Als Vertreterin der Sonnengöttin weist Maria Magdalena der Menschheit den richtigen Weg wie die alttestamentliche Weisheit, die Nachfolgerin altorientalischer Göttinnen:
Als Vertreterin der Sonnengöttin weist Maria Magdalena der Menschheit den richtigen Weg wie die alttestamentliche Weisheit, die Nachfolgerin altorientalischer Göttinnen. So heisst es von der Weisheit:
Ruft nicht die Weisheit vernehmlich?
erhebt nicht die Einsicht ihre Stimme?
Oben auf den Höhen am Wege,
da wo die Pfade sich kreuzen, steht sie. Zur Seite der Tore am Ausgang der
Stadt, am Eingang der Pforten ruft sie laut: Euch, ihr Männer, gilt meine
Predigt, an die Menschenkinder geht mein Ruf..... (36).
Um das Wort Gottes zu verkünden, steht die Weisheit wie eine altorientalische Dirne in den Gassen. Das heisst, die Weisheit als unabhängige Göttin wurde von alttestamentlichen Theologen als erotisch anzügliche Frau vorgestellt (37). Auch Maria Magdalena galt in den Evangelien als Dirne. Es ist ein patriarchaler Trick, um ihre Bedeutung bei der Entstehung des Christentums herunterzuspielen: Man disqualifiziert sie moralisch und dann ist sie aus moralischer Sicht der patriarchalen Theologen, die nie als Hurer bezeichnet werden, nicht mehr relevant!
In unserem Bild erkennt Maria Magdalena in der Stille der Höhle den Auferstanden und trägt Petrus das Erschaute als Bot-schaft zu. Sie wirkt in der Stille, in der Finsternis, während die Weisheit (hebräisch Chokmah) in den lärmigen Strassen die Botschaft ihres Gottes verkündet. Chokmah wird bei Jesus Sirach etwa als blosses Werkzeug Gottes dargestellt, andererseits tritts sie in Weisheit Salomo Gott als eigenständige Grösse gegenüber (38). Im Prolog des Johannesevangeliums wird die Weisheit mit Logos-Christus identifiziert, doch wirkt sie in den Frauen weiter, die in der Nachfolge Christi Führungsrollen übernahmen. Darauf hat Martin Scott gewiesen. In dieser dominanten Stellung steht nun Maria Magdalena da. Sie ist der Erste Christ und das eigentliche christliche Vorbild (39).
Die alttestamentliche Chokmah ist ständig in Bewegung und tanzt vor Gott, um Jahwe zu gefallen (40). Maria Magdalena ist nicht im Tanz mit Gott vereint sondern steht vor dem Grab, dem Schrecken des Todes. In dieser Situation findet die Vereinigung von Gott und Mensch statt, die in den hellen Schleifen über den Gewändern der beiden Gestalten, des Auferstandenen und der Maria als Kreis angetönt ist (41).
Angaben
- ⇑ Marie-Louise von Franz, «der Animus, der innere Mann in der Frau», beides in «der Mensch und seine Symbole», S. 140; 189ff.
- ⇑ Hannah Wolff, Jesus der Mann
- ⇑ Ulrich Wilckens, Auferstehung, S. 53
- ⇑ Eugen Drewermann, Die Botschaft der Frauen, S. 155; 175
- ⇑ I. Korinther 11,1-11
- ⇑ vgl. Wilfried Eckey zu »Anfang» in «das Markus-Evangelium»,
S. 60 - ⇑ Markus 5,5-34
- ⇑ III. Mose 10,1f.
- ⇑ II. Samuel 6,6f.
- ⇑ Trevor Bryce, The Kingdom of the Hittites, p. 183f.
- ⇑ Näheres in meinem Aufsatz: Arawnah und David (II. Sam. 24)
- ⇑ Trevor Bryce, The Kingdom of the Hittites, p. 239
- ⇑ Eric H. Cline, 1177 v. Chr., S. 206ff., bes. S. 207. Im späteren Friedensvertrag der Hethiter mit den Ägyptern vereinbarten die beiden Mächten, dass sie die Flüchtlinge zurückgeben, in Francis Breyer, Ägypten und Anatolien, S. 232
- ⇑ Francis Breyer, «Ägypten und Anatolien», S. 425; Vgl. meinen Aufsatz «Die Göttin hinter der biblischen Bundeslade»
- ⇑ Francis Breyer, Ägypten und Anatolien, S. 425
- ⇑ Thomas Staubli, Das Image der Nomaden im Alten Israel,
S. 3f.; 38ff. - ⇑ Terra-x, Klima macht Geschichte, Teil 1, ab 36 min.
- ⇑ Sprüche 8,1-4
- ⇑ Jesus Sirach 9
- ⇑ Silvia Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, S. 43ff.
- ⇑ Martin Scott, Sophia and the Johannine Jesus
- ⇑ Sprüche 8,30
- ⇑ Erich Neumann, zur psychologischen Bedeutung des Ritus,
Par. 29, gefunden in «opus-magnum.de»
Text und Gestaltung: Esther Keller-Stocker von 1986,
zuletzt
revidiert: Febr. 2020