Marie E. P. König
Die meisten Bilder in dieser Homepage stammen
aus "Am Anfang der Kultur"
I. KAPITEL: GRUNDBEGRIFFE
Am Anfang der geistigen Genese muss eine allgemeine Orientierung gestanden haben, aus der sich der universale Begriff ergab. Zum Gedankeninhalt des äen Weltbildes gehörte, die ihm innewohnende Macht. Ihr fühlt sich der Mensch ausgeliefert. Daraus ergab sich ein Gefühl der Abhängigkeit, aber auch der Verbundenheit und der Verpflichtung. Die Begegnung mit dieser unsichtbaren Kraft erforderte ein besonderes Verhalten, den Kultus, und den von der alltäglichen Welt abgeschlossenen symbolischen Raum, den Kultraum. Um das Unsichtbare ansprechbar zu machen, es zu vergegenwärtigen, musste es als Kultbild symbolisch dargestellt werden. Die ältesten Fundgegenstände sind Sphäroiden. Sie sind keine Werkzeuge und mussten, so nimmt man an, kultischen Zwecken gedienten haben. Die ältesten stammen aus einer altsteinzeitlichen Kultur, dem Acheuléen, die vor etwa 300 000 Jahren begann (1).
Die ältesten der in weiten Teilen der Welt gefundenen Sphäroiden stammen, soweit sich bis jetzt feststellen lässt, aus Europa. Zufällig wurden im Aisne-Tal in Frankreich in Sandgruben drei sorgfältig und zurecht gehauene Steine gefunden. Nach H. Jouillie stammen sie aus dem Acheuleen, einer Epoche der Altsteinzeit. Ihr Durchmesser beträgt 8,9 bis 10,5 cm, sie waren in der Grösse der Hand angepasst.
Versinterte Lösskugeln aus Achenheim, Elsass (Altpaläolithikum)
Das runde Sphäroid war die ideale Gestalt für den noch undifferenzierten Grundbegriff, denn es ist die einzige vollkommene einheitliche Figur. (S. 31-34).
Marie E.P. König verbindet die runden Sphäroide mit dem Lauf der Gestirne, die im Bogen über den Himmel
zogen und diesen damit als Wölbung erscheinen liessen. Alle späteren Kulturen gingen
noch von der Idee des kugelförmigen Kosmos aus und konnten ihn auch in der Gestalt der Kugel darstellen.
(S. 34.)
Doch nicht nur in Steinen wurde die Idee des Runden zum Ausdruck gebracht, sondern auch in anderen Objekten, vor allem im menschlichen Schädel. Dieser brachte Denken mit dem menschlichen Dasein in Verbindung. In Deutschland und in der Schweiz wurden Schädel von Menschen und Tieren in Seen gefunden, die von rituellen Opfern stammen. Da das Jenseits stets im Wasser liegend gedacht wurde, lassen die Funde an ein Ritual an unterirdischen Mächten denken. Einen Glauben der auf gleiche Weise über 100 000 Jahre ausgeführt wurde.
Dieser Opferritus zeigt, dass der Kosmos nicht mehr als Einheit gedacht wurde. Es gab jetzt ein Oben und ein Unten, ein Diesseits und ein Jenseits. Damit wurde das Bekannte genauer gegliedert, und es war ein Schritt zur steigenden Prägnanz des universalen Begriffs. (S. 35)
Im Mittelpaläolithikum wurde die Sphäroide nun als Kalkkugeln im ganzen Bereich der Besiedlung festgestellt worden, d.h. im westlichen Europa, im vorderen Orient und in Afrika. P. Wernert bezeichnet diese Kugeln als typische Kulturelemente der mittleren Altsteinzeit. Auch der Schädel verlor nicht seine hintergründige Bedeutung. Oft ist er vom Körper abgetrennt und sorgfältig aufbewahrt worden.
In dieser Zeit begann der Höhlenkult. Bei der Anlage eines Kellers an der Steilküste des Monte Circeo, Prov. Latina, stiessen Arbeiter auf den Eingang zu einer Höhle, die seit der Neandertalerzeit verschlossen gewesen war. In der so genannten "Grotte Guattari" fand man besteht aus zwei Teilen. Der erste bildet den Eingang mit Kalksteinen verschlossen. Der innere, tief im Berg gelegene Raum war viel breiter als der Zugang und ungefähr gerundet. In der Mitte lag umgeben von Geröll ein Schädel aus der Neandertalerzeit.
Tiefe Stille herrscht im Höhlenraum. Es ist eine vom Lebensbereich getrennte Sphäre, in welcher der Schädel aufgestellt worden ist, ein Kultraum. Wenn der Schädel als Kultbild diente, ist vielleicht auch die Form der Höhle kultisch bedingt gewesen. Marie E. P. König verweist auf Karl Jaspers, nach dem das unmittelbare Weltbild in doppelter Hinsicht denkbar sei: Man kann sich das All in objektiver Sicht vorstellen, sozusagen von aussen her. Dann erscheint der Kosmos rund wie eine Kugel, wie sie die Sphäroiden darstellen. Andererseits ist die Welt auch in subjektiver Sicht zu vergegenwärtigen, von innen her. Dann bildet der Beschauer selbst den Mittelpunkt und die Welt ist hohl, umschliesst ihn wie ein Gehäuse, er steht im Weltraum, wofür der hohle Schädel steht.
In subjektiver Sichtweise konnte der Höhlenraum das Gleichnis für den Weltraum ergeben, der Polarität entsprechend,
gab es den oberirdischen Weltraum und das Gegenstück im unterirdischen. Hier war zugleich die vom Alltäglichen getrennte
Sphäre, im Glauben der Menschen der Ort, an dem die Begegnung mit dem Numen stattfand, dessen Epiphanie sich im Kultbild
vollzog. Aus dem Zusammenhang von objektiver und subjektiver Weltsicht ergab sich die bedeutungsvolle
Äquivalenz zwischen
Kultbild und Kultraum.
(S. 35-40)
Auffallend sind die Steinschalen, die im Mittelpaläolithikum auftauchen, z.B. in einem Kindergrab (La Ferrassie, Dordogne) oder vier angeordnete Schälchen in Megalithbauten in der Bretagne. Die angeordneten vier Schälchen versinnbildlichen die Ewigkeit. Diese Grundlegung der Weltordnung kann schon beim Neandertaler begonnen, denn er kannte die Ost-Westrichtung, wie seine georteten Grablegungen verraten.
Schalendeckel aus den neolithischen Tempeln, Malta
Das setzt die genaue Beobachtung der Gestirne voraus, besonders die der Sonne. Sie geht an der einen Seite des Himmels auf und an der anderen unter. Dabei verschieben sich im Laufe des Jahres der Auf- und der Untergangspunkt um je einen Mittelpunkt, den so genannten Kardinalpunkt. Zwischen beiden Seiten des Himmels oder, genauer gesehen, zwischen den beiden Kardinalpunkten konnte man sich eine Verbindungslinie, die Weltachse denken. Sie bildet ein uns noch heute geläufiges Ordnungsschema. Ihre Entdeckung muss in der Geschichte der Kultur eine Sternstunde bedeutet haben. Es war ein ganz grosser Fortschritt, als die bis dahin einheitlich gedachte Wölbung des Kosmos durch eine Achse eine straffe Gliederung erhielt.
Nummulites perforatus, schwach geschliffen, mit Linienkreuz versehen
Vom Sphärischen zum Halbrunden kommt nun die Weltachse als gerade Richtung ins Spiel. Um diese Gerade darzustellen gebrauchte man den Langknochen, der im Kult, der im Kult eine Rolle zu spielen begann. Obwohl er das begehrte Mark enthielt, ist er unzerbrochen in Kulträumen gefunden worden.
Ein neues, für viele überraschendes Zeugnis für den Geist der Frühzeit fand L. Vertes 1964 in einer mittelpaläolithischen Travertin-Siedlung bei der Stadt Tata in Ungarn 2,1 cm Durchmesser. Dieses einzellige Gehäuse ist schwach gerundet geschliffen worden. Auf der so vorbereiteten Oberfläche wurden zwei gerade Linien, die sich fast genau im rechten Winkel schneiden, scharf eingeritzt. Der Fund stammte aus dem archaischen Moustérien-Material, und ist Beweis, dass der Mensch dieser Zeit nicht nur zwei, sondern vier Himmelsrichtungen kannte.(S. 41-42)
Im Folgenden deutet Marie E. P. König das Linienkreuz in ihrer aussergewöhnlichen Weise: Das Linienkreuz kannten alle folgenden Zeiten, und wir finden es in den Kultplätzen. Es ist eine Chiffre. Sie setzt die Erkenntnis des Kosmos voraus und seine Teilung durch die Weltachse. Zugleich musste der graphische Ausdruck bekannt sein. Die Ost-Westachse, die die Welt halbierte, ergab sich aus der Beobachtung der Gestirne. Es war dagegen ein reiner Denkakt, der den Menschen die prägnantere Weltordnung, die Teilung in Viertel finden liess und ihren Ausdruck im Linienkreuz. Dieses so schlichte Zeichen ist nicht aus der allmählichen Ableitung von der Kugel zu erklären. Es setzt das Ordnungsschema der Linie voraus, nur dass nun zwei Linien senkrecht aufeinandergestellt werden. Es war ein schöpferischer Einfall, der die für alle Zeiten bindende Grundstruktur der geordneten, kultivierten Welt finden liess. Es war ein Impuls gegeben, dessen steigende Prägnanz sich im Fundmaterial verfolgen lässt.
Dieses Schema brachte eine ganz besonders wichtige Erkenntnis; die Welt erhielt einen Mittelpunkt. Es war der Schnittpunkt der beiden Weltachsen. Von ihm gingen die vier Himmelsrichtungen aus, die in den vier Kardinalpunkten endeten und am Schnittpunkt vier rechte Winkel bildeten; ganz allgemein gesehen, ergab sich das Strukturbild der Vier. Sie entwickelte sich nicht aus dem organischen Wachstum, sondern entsprang dem begrifflichen Denken. Die Vier bildete einen grossen Zuwachs an bestimmenden Ordnungen, die die Kulturwelt von der Naturwelt abhoben. Da Kosmos und Mensch wohl noch nicht differenziert gedacht wurden, ergab die Vier zugleich ein ungeschriebenes Gesetz für das geistig-sittliche Verhalten und kann vielleicht als Archetyp. als Urbild der Seele angesehen werden. Da die geistige Genese durch die Grundprinzipien bestimmt wurde und sich nur durch steigende Prägnanz entfalten konnte, so bekam sie durch diese Weltordnung ein bestimmendes Gesetz mit auf den Weg. Das Einhalten der Vorschrift des rechten Winkels ist uns durch die Bautätigkeit der Neandertalerzeit überliefert worden. Der Tote in der Höhle La-Chapelle-aux-Saints lag in einer viereckigen Grabgrube. Das gleiche Grundrissschema zeigt ein Kindergrab aus dieser Zeit, das in der Grotte von Qufzeh bei Nazareth von französischen Archäologen entdeckt wurde. Es ist sorgfältig in den steinernen Grund gehauen worden. Viereckig ist auch die Grube in der Höhle Régourdou bei Montagnac, Dep. Dordogne, und viereckige Steinkisten will E. Bächler in der 2445 m hoch gelegenen Drachenlochhöhle in der Schweiz gefunden haben (S. 42-44).
Ergänzung:
- nach Wikipedia dauerte Acheuléen-Zeit von ca. 1,76 Millionen bis 150'000 Jahren vor heute
Letzte Revision im Juli 2014,
bearbeitet von Esther Keller, Schweiz