Römer 3,24-26


von Esther Keller-Stocker

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8. Paulus und die Gnade

8.1. Paulus und das Weibliche

Paulus war einst ein äusserst eifriger Pharisäer, gesetzesstreng wie nur Juden in der Diaspora sein konnten. Als er von der jungen Christengemeinde hörte, verfolgte er sie unerbittlich (Gal. 1,13f.). Nach der Apostelgeschichte (Apg 7,58) soll er auch bei der Steinigung des Stephanus anwesend gewesen sein. Seine Verfolgungsjagd gegen die Christen führte ihn nach Damaskus.Doch unterwegs begegnete ihm der Auferstandene, worauf sich Paulus zum Christentum bekehrte, Apostel der Heiden wurde und sich fortan "Apostel von Gottes Gnaden" nannte. Gleichzeitig wandte er sich mit dem gleichen Eifer wie früher nun gegen die jüdische Gesetzestreue.

Paulus gilt allgemein als der Denker im Neuen Testament. Im Denken kommt Bewusstseinsenergie am konzentriertesten zum Ausdruck. Yin-Yang-SymbolEs wirkt wie Licht und so hat Jolande Jacobi (84) Denken mit dem Yang im Symbol Yin und Yang gleichgesetzt. Denken ist eine irdische, menschliche Eigenschaft und wird mit Geist und Mann assoziiert. Entsprechend erscheint auch der archetypische Hintergrund männlich. Wir nehmen ihn als Gott wahr. Er ist aber nur ein Teil Gottes, nämlich der Archetyp des Grossen Vaters.

Paulus dürfte bei seinem Damaskus-Erlebnis in seiner Lebensmitte gestanden haben. Seine Bewusstseinseinstellung war bis anhin eher extravertiert, denn er orientierte sich ganz nach der antikjüdischen Tradition und suchte sein Heil in der Gesetzestreue. Die Orientierung an vorgegebenen Inhalten zeigen, dass die Hilfsfunktion seines Denkens die Wahrnehmung war.

Auf dem Symbol des Yin und Yang ist Wahrnehmung der Yin-Punkt im Yang. Das heisst, das Wahrgenommene wird durch das übergeordnete Denken gefiltert und alles, was nicht in die denkerische Ideologie passt, wird verdrängt, gehört zum schwarzen Yin-Punkt. In diesem verdrängten Bereich musste sich die Christengemeinde befunden haben. So wie Paulus mit mörderischem Einsatz die neue Gemeinde verfolgt, besagt, dass etwas von seinem unbewussten Schatten zum Klingen kommt. In seinem Eifer gebärdert sich Paulus wie der alttestamentliche Jahwe: Jedes Mittel war ihm heilig, um seine Ideale durchzusetzen. Sowohl bei Paulus als auch bei Jahwe fallen die Ideale mit dem Ichbewusstsein zusammen. Alles, was nicht in dieses Ich-Ideal passt, aber trotzdem zur eigenen Person gehört, wird als Nicht-Ich erfahren. Paulus erfährt dieses Nicht-Ich wegen seiner extravertierten Wahrnehmung aussen in der neuen religiösen Gruppe, in der Christengemeinde, die zu seinem Schattenträger wurde. Gleichzeitig sinkt der verdrängte Schatten in unbewusstere Bereiche, was Unbehagen auslöste. Vor dem Ziel seiner Verfolgung bricht dieses Unbehagen in einer auditiven Vision durch:

Saulus, Saulus was verfolgst du mich? (Apg. 9,5)

soll ihm der Gekreuzigte vor Damaskus zugerufen haben. Der Satz hört sich an wie das personifizierte schlechte Gewissen, das nicht von einem ersehnten Propheten kommt sondern vom Auferstanden, an den die neue Christengemeinde glaubt. Um diese himmlische Gestalt rankten sich bereits Traditionen, die Paulus nun übernehmen und denkerisch ausarbeiten konnte.

Doch die Erscheinung am Himmel vor Damaskus begann nun inflationär von ihm Besitz zu ergreifen, wie dies etwa in der Begrüssung an die Galater zum Ausdruck kommt:

Paulus, Apostel nicht von Menschen her noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat von den Toten (Gal. 1,1)

Da spricht wieder der alte Fanatismus aus ihm heraus, der ihn nun mit seinem archetypischen Vorbild zusammenfallen lässt. Und wie der alte Fanatismus muss auch der neue etwas verdrängen, was ideologisch nicht passt. Diesmal ist es nicht mehr das kleine Yin, dem er im Kampf um Macht und Hierarchie begegnete und zu integrieren suchte, sondern das grosse Yin. Und das grosse Yin fällt in einer patriarchalen Ordnung mit weiblich zusammen. Und da männlich mit Licht, Denken und im Bewusstseinsein assoziiert wird, wird weiblich mit Dunkelheit, mit "Denkerisch nicht erfassbar" und  demnach auch als "nicht richtig", "nicht wirklich" wahrgenommen. Diese Diskrepanz kommt in Galater 1 exemplarisch zum Ausdruck:

Danach, drei Jahre später erst, zog ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennen zu lernen, und blieb zwei Wochen bei ihm. Sonst habe ich von den Aposteln niemanden gesehen - auüer Jakobus, den Bruder des Herrn Was ich euch hier schreibe, das ist nicht gelogen - ich erkläre das hiermit vor Gottes Angesicht (Gal. 1,18f.).

Wieso sagt Paulus hier nicht einfach, er habe Kephas und Jakobus getroffen? Warum diese umständliche Formulierung? Auch sagt Paulus nicht, er habe niemanden gesehen, sondern nur, er habe keine weitere Person gesehen, die nach patriarchalem und insbesondere nach antikjüdischem Recht Anspruch auf legitime Autorität hatte. Und von jeder öffentlichen Autorität ausgeschlossen waren die Frauen, hier die Frauen am Grab. Diese befanden sich nach Apostelgeschichte 1,13-14 im Kreise der Jünger in Jerusalem. Dass Paulus in "niemanden ausser Jakobus" etwas verschweigt, ist auch neutestamentlichen Exegeten aufgefallen. "Niemand ausser" und noch in dieser verzwickten Form lässt auf einen peinlichen Inhalt schliessen, der unter allen Umständen verschwiegen werden musste. Und Paulus schwört noch "vor dem Angesicht Gottes!" Er schwört aber nur, er habe sonst keinen anderen (männlichen) Apostel gesehen!

Meines Erachtens hatte Paulus in Jerusalem die ersten Zeuginnen des Auferstandenen getroffen. Und diese musste er im Galaterbrief aufgrund seiner pharisäischen Strenggläubigkeit verschweigen. Wenn er dann noch schwört, keinen anderen Apostel ausser Jakobus gesehen zu haben, dann spricht er zwar wahr. Bloss die Apostel ihrerseits mussten sich auf die Aussagen der Frauen stützen. Denn die Jünger waren bei den zentralen Ereignissen, Kreuzigung und Gang zum Grab ja gar nicht anwesend. Die Frauen mussten den Männern erst sagen, dass Jesus auferstanden war. Mir scheint auch, die Frauen gehörten zu den "Angesehenen", die Paulus in Galater 2,2ff. diffus erwähnt. Demnach waren auch sie es gewesen, die ihn zum Heiden-Missionar bestätigten.

In seinem Schwur "vor dem Angesicht Gottes" kann er sich zwar auf die antikjüdische Norm stützen, nach dem Frauen nicht als Zeugen zugelassen waren, doch sein Gewissen stellt sich gegen seine ideologische Gesetzlichkeit. Dies kommt auch in I. Korinther 15 zum Ausdruck:

Dies nämlich ist die Erstüberlieferung, die ich euch so weitergegeben habe, wie ich sie selbst empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, nach den Schriften; und ist begraben worden. Und er ist auferweckt worden am dritten Tage, nach den Schriften; und Kephas erschienen und dann den Zwölfen. Danach ist er mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal erschienen; die Mehrzahl von ihnen ist noch am Leben, einige sind aber schon entschlafen. Danach ist er Jakobus erschienen und dann den Aposteln insgesamt. Zuletzt vor allen ist er auch mir erschienen - mir, der Missgeburt. Denn ich bin der geringste im Kreise der Apostel; ich habe auch gar nicht die Eignung, mich Apostel zu nennen; denn ich habe ja die Gemeinde Gottes verfolgt. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade, die er mir zugewandt hat, ist nicht unwirksam geblieben: Mehr als sie alle zusammen habe ich in meiner Missionsarbeit geleistet.

Sein Glaube beruht auf der Erstüberlieferung - von wem er sie überliefert bekam, sagt er nicht. Als erste Auferstehungszeugen nennt er Kephas und die Zwölf, also wieder die Männer, die nach antikjüdischem Recht Zeugen sein konnten und Anspruch auf Autorität hatten. Dann erwähnt er die fünfhundert Brüder, denen Christus erschienen sein soll. Bei Paulus sollen mit "Brüder" die "Schwestern" automatisch eingeschlossen sind, heisst es in der Fachliteratur. Eigenartigerweise wiederholt er sich in V. 7 Jakobus und die Apostel.

Offenbar verstärkt sich hier der Druck eines verdrängten Wissens. Um den Frauen am Grab auszuweichen, erwähnt er nun ein mütterliches Urmotiv: "Zuletzt vor allen ist er auch mir erschienen - mir, der Missgeburt". Um dem Druck der wirklichen Begebenheiten, dass Frauen die ersten Zeuginnen war, zu entgehen, greift er auf das Bild der Mutter. Also, statt die wohl gleichaltrigen Frauen, die sich nach den vier Evangelien unter dem Kreuz und am Grabe als die wahren Jünger erwiesen, zu verdrängen, greift er mit seiner unbewussten Intuition auf das Mutterbild. Die Abwehr äussert sich in der Bezeichnung "Ich - Missgeburt" als Ausdruck seines unbewussten Ichgefühls, in dem auch das Motiv Tod und Wiedergeburt durchschimmert, die Jesus widerfahren war und von dem die Frauen am Kreuz und am Grab berichten konnten.

Die Begründung zu seiner negativen Selbstaussage sieht er in der Verfolgung der Christen. Doch als Bester und Erster kann er sich nicht in dieser Minderwertigkeit akzeptieren. Deshalb schlägt seine negative Selbstaussage ins Gegenteil um, ins Gefühl der Groüartigkeit:

Denn ich bin der geringste der Apostel, der ich nicht wert bin, ein Apostel zu heissen,weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe; durch Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin. Und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern mehr als sie alle habe ich gearbeitet; doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir. (I. Kor. 15,9-11).

Ist er zwar seitens der chthonischen Mutter eine Missgeburt, so doch von der himmlischen Mutter, der Gnade Gottes, der Auserwählte par excellence, und damit kann er sich alle irdischen Frauen vom Leibe halten. Und wodurch erwirbt er sich diese Sonderstellung? Durch Leistung!

Aber die Verdrängung der Frauen am Grab war nicht nur das Problem des Paulus sondern es ist auch das Problem unserer heutigen Exegeten. Nehmen wir als Beispiel Hans Conzelmann, "Geschichte des Urchristentums": Seitenweise beschreibt er die zwölf Apostel, gewissenhaft tut er immer wieder sämtliche Namen der bekannten Männer kund, doch wenn es um die Frauen am Grab geht, schreibt er plötzlich:

Man entdeckte wirklich (am 3. Tage nach dem Tod Jesu), dass das Grab leer war, wie immer man dies erkläre. .... (S. 29)

Wer ist dieser "man" - die Frauen, deren Name er im Gegensatz zu den Namen der Männer gefliessentlich verschweigt. Andere Exegeten versuchen die Frauen noch radikaler zu verdrängen, indem sie behaupten, die Grabeserzählungen seien Legenden, die später eingefügt wurden. - DocEngel rechtsh wer soll Legenden geschrieben haben, die Frauen als weit mutiger und als die eigentlichen Jünger darstellen?

8.2. Die göttliche Gnade
bei Paulus

Durch die Gnade Gottes (Röm. 3,24) geschieht die göttliche Heilstat umsonst, d.h. ohne eine Leistung vom Menschen. Das Hymnusfragment steht in der alttestamentlichen Theologie und begründet die göttliche Vergebung der vergangenen Sünden durch den Tod Jesu (Röm. 3,25). Paulus greift diese Vorstellung zwar auf, setzt sie aber absolut. Der Tod Jesu Christi ist ein universeller Gnadenakt Gottes an den Menschen.

Die Begriffe "Gerechtigkeit" und "Gnade" (Röm. 3,24) sind im Alten Orient und in der Antike Göttergestalten: Gerechtigkeit etwa wird in Alt-Ägypten durch die Göttin Maat vertreten. Sie ist die Kosmosordnung schlechthin und füttert den höchsten Gott mit ihrer Gerechtigkeit (85). Im Alten Testament war die Weisheit(Chokmah) teilweise Trägerin dieser Kosmosordnung (86). "Gnade" war im Alten Testament und im antiken Judentum eine weibliche Grösse (87).

Paulus hatte ein enges Verhältnis zur göttlichen Gnade, denn sie hatte ihn zum Apostel ordiniert (I. Kor. 15,10). Sie ist der Geistasepkt der Grossen Mutter und tritt anstelle der Frauen am Grab, die ihn in Wirklichkeit als Heiden-Missionar bestätigten. Um der realen Existenz der Frauen am Grab aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, weicht er auf das archetypische Muster von "Mutter und Kind" aus. Dieses Grundmuster wandelt sich unter seiner Feder um die Breite der Verdrängung ab zu "mir Missgeburt" (V. 6). Diese Missgeburt mildert er ab in "ich bin der geringste unter den Aposteln" und gesteht damit seine Verfehlung ein, nämlich die Verfolgung der Christen. Damit integriert er einen Teil seines Schattens. Doch der patriarchale Schatten ist verflochten mit dem verdrängten weiblichen Aspekt. Die Gnade wirkt hier kompensatorisch zu "geringsten" und "Missgeburt". Denn vom chthonischen Aspekt der Grossen Mutter ist er ein Verworfener, in ihrem Geistaspekt der Erwählte. Diese Gegenüberstellung beschreibt er auch in Galater 1,16:

Als es aber dem, der mich von meiner Mutter Leib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn an mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heiden verkünden kann.

Hier steht Gott über der Situation: Gott hat Paulus von seiner Mutter Leib ausgesondert, aber Gott handelt nicht allein sondern im Einverständnis seiner Gnade. Dieses Konstrukt steht dann in eigentümlicher Spannung zu:

Dagegen von Seiten der "Angesehenen", die etwas darzustellen meinen - was sie früher einmal waren, ist mir gleichgültig, Gott sieht die Person nicht an -, mir haben die Angesehenen" nichts auferlegt, sondern im Gegenteil! Als sie sahen, dass ich mit der Heilsbotschaft für die Unbeschnittenen betraut bin, wie Petrus mit der für die Beschnittenen - denn Er, der Petrus die Kraft zur Sendung an die Beschnittenen geschenkt hat, hat sie auch mir zur Wirkung unter den Heiden gegeben; und als sie die Gnade erkannten, die Gott mir gegeben hat, da haben Jakobus, Kephas und Johannes, die als die "Säulen" gelten, mir und Barnabas die rechte Hand gegeben zur (Bekräftigung der) Gemeinschaft. Wir sollen zu den Heiden, sie zu den Beschnittenen gehen. (Gal. 2,6-9)

Wenn er anfangs des Briefes auf seine Unhabhängigkeit von einem Menschen pochte, musste er hier doch zugeben, dass die "Angesehenen" von Jerusalem ihn zum Heidenapostel ernannt hatten. Unter diesen "Angesehenen" mussten sich auch die Frauen am Grab befunden haben. Wäre das Gremium nur von Männern besetzt  gewesen, hätte Paulus ja gleich sagen können, wer ihn bestätigt hatte. Doch die Namen der drei Säulen, Jakobus, Kephas und Johannes, kommen erst im zweiten Anlauf - hier ist wieder das Zögern, wieder das Unbehagen zu spüren wie in Galater 1,18f. und I. Korinther 15,5f. Dieses Zögern kann ich mir nur damit erklären, dass die Frauen am Grab im Gremium waren. Paulus wehrt sie ab im abschätzigen "was sie früher einmal waren, ist mir gleichgültig" und "Gott sieht die Person nicht an" - Steht diese Aussage nicht im Widerspruch zu seiner göttlichen Legitimation? Zu seiner Selbstüberhöhung?

In Römer 1,4ff. legitimiert sich Paulus durch den Auferstandenen:

Paulus, Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert zur Verkündigung des Evangeliums Gottes, das er vorher verheissen hat durch seine Propheten in den heiligen Schriften, über seinen Sohn, der aus der Nachkommenschaft Davids hervorgegangen ist nach dem Fleische, der eingesetzt ist zum Sohne Gottes voll Macht aufgrund des Heiligen Geistes kraft der Auferstehung von den Toten: Jesus Christus, unser Herr, durch den wir Gnade und Apostelamt empfangen haben, um für seinen Namen Gehorsam des Glaubens zu bewirken unter allen Heiden, unter denen auch ihr seid als solche, die von Jesus Christus berufen sind; an alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen, die in Rom sind, Gnade sei euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! (Röm. 1,1-7)

Jesus ist nach der Kraft des Heiligen Geistes (V. 4) in die Machtstellung des Sohnes Gottes eingesetzt seit seiner Auferstehung von den Toten. Und durch Jesus Christus hat Paulus Gnade und Sendungsauftrag erhalten (V. 5). Doch diese Konstruktion weist wieder auf das eine Problem: Wer hat als erste den Auferstandenen verkündet? Die Frauen am Grab! Aus dem Bedürfnis heraus, die Frauen am Grab als erste Zeuginnen und religiöse Autorätit zu verdrängen, setzt Paulus hier die numinose Grösse Jesus Christus.

In Römer 3,24 tritt die göttliche Gnade als die Offenbarung des göttlichen Heilswirkens, welches den Zorn Gottes überwindet und den Menschen, der nach dem Gesetz sündigt, im Glauben errettet. Nach Rudolf Bultmann ist Zorn Gottes (Orge Theou) Gottes Gericht, das sich allezeit vollzieht. Dieses ist also ohne zeitliche Bestimmtheit das göttliche Strafgericht (Röm. 4,15). Demgegenüber ist Gnade (Charis) nicht seine bisher unbekannte oder verkannte gnädige Gesinnung, sondern sein jetzt sich ereignender Gnadenerweis und in der Zeit richterlichen Waltens das gnädige Handeln des Richters. Ulrich Wilckens betont, dass die zwei Wörtchen jetzt aber (88) (nuni de) in Röm. 3,24 Gnade Gottes im Gegensatz zu Zorn Gottes steht und zwar im Sinne, "dass die Gerechtigkeit Gottes sich an eben den Ungerechten auswirkt, die seinem Zorn bereits allesamt verfallen sind." Und weiter unten: Das Perfekt als "vollendete Gegenwart" enthält das Prüfen in sich, aber umgreift es. Die Gerechtigkeit Gottes, die zugleich mit seinem Zorn im selben Akt der Verkündigung des Evangeliums offenbar wird (Röm. 1,17.18), ist in der "Jetzt-Zeit offenbart (3,21), ihre Offenbarung ist ein Geschehen, das, indem es den gesamten "Zeit-Raum" der Gegenwart bestimmt, den ihr entgegenwirkenden Zorn je und je als vergangen offenbart. Zum Zorn Gottes schreibt Ulrich Wilckens:

Im Stil apokalyptischer Gerichtsverkündigung lässt Paulus unter dem Aspekt des Endgerichts hervortreten, welches die Situation der gesamten Menschheit vor Gott ist: Die Menschen haben sich der in der Schöpfung wirksamen Gegenwart Gottes verweigert, so dass diese ihnen nun verschlossen ist. Ihr Widerspruch gegen Gott manifestiert sich in der Verweigerung des Dankes und Lobpreises, in der sie im Götzendienst Gott zu sich herabziehen und den Schüpfer zum Geschöpf, zu ihrem Geschöpf machen. Der Widerspruch gegen Gott aber wirkt sich zugleich gegen sie selbst aus, indem die Menschen einander benutzen müssen, um sich die im Bruch mit dem Schöpfer fehlende Menschlichkeit auf Kosten der andern zu verschaffen. Statt aber den Hunger nach Leben stillen zu können, geraten sie so nur immer tiefer hinein in die Unmenschlichkeit. Als Feind Gottes wird der Mensch des Menschen Ausbeuters. (89)

"Als Feind Gottes wird der Mensch des Menschen Ausbeuters". Aber liegt diese Ausbeutung nicht letztlich im Zorn Gott begründet? Wenn ich an die Völkermorde denken, an die Zerstörung Israels oder die Ausschaltung der Frauen aus dem religiösen Bereich?

Die Vorstellung von Paulus über die göttliche Gnade ist auch im Alten Testament thematisiert. So heisst es, wo die Gnade (Häsäd) herrscht, wirkt der Zorn Gottes nicht mehr so vernichtend.

Heutige Theologen betonen, die Sprache von Römer 3,24-26 orientiere sich am Alten Testament und an den antikjüdischen Schriften, wo Gott kein Opfer annimmt. Dabei beziehen sie sich auf die alttestamentlichen Propheten, die sich in diese Richtung äusserten. Doch die alttestamentlichen Geschichtsbüchern sind voll von Kriegen und Zerstörung. Da verhängt Jahwe über ganze Stämme und Völker den Bann, d.h. ganze Bevölkerungen wurden im Namen Gottes getötet. Theologen im Alten Testament hatten grosse Mühe, den destruktiven Aspekt Jahwes zu erfassen. In Römer 1 bis 3 rollt Paulus diese alttestamentliche Problematik wieder neu auf, sieht dessen destruktiven Macht in der Gnade Gottes überwunden (Römer 3,24), doch flugs kommt sie aus der Hintertür wieder herein, nun völlig verdrängt in der Gestalt der Grossen Mutter, die durch den "Sühnedeckel" (Hilasterion) durchschimmert.

Da der Begriff Hilasterion in Römer 3,25 unvermittelt als unbewusster Komplex bei Paulus auftaucht, schwingen in dieser unbewussten Unkontrollierbarkeit auch heidnische Komponenten mit. So bezeichnet Hilasterion in der hellenistisch heidnischen Welt die Opfergabe an eine erzürnte Gottheit.

Auffallend ist ja auch, wie Paulus das Hymnusfragment dort aufgreift, wo es triumphierend beginnt: "Gott hat ihn öffentlich hingestellt". Dieses "öffentlich hinstellen" erscheint wie die These zu einer Antithese des Verborgenden, zur Lade, die sich im absoluten Dunkeln befindet. Einst stand sie im absoluten Dunkeln des Allerheiligsten, dann, trotz ihrem Verschwinden bei der Zerstörung des 1. Jerusalemer Tempels mottete sie weiter im antikjüdischen Unbewussten und drückt in unserem Hymnusfragment wie eine Eiterbeule an die Oberfläche, erahnbar durch den Deckel, dem Opfer, unter dem sie sich verbirgt.

Paulus ist bereit Schatten zu integrierten, aber nur unter Männern. In Römer 3,24 kommt wie in I. Kor. 15,6 das grosse Aufatmen: unter der Gnade sind wir die Geretteten, die Gerechtfertigten. Doch zu welchem Preis? Apolutrosis (V. 24) meint den Freikauf von Gefangene und Sklaven. In Römer 3,24 soll also das patriarchale System durch den Tod Jesu alsEngel rechts Opfer an die Grosse Mutter freigekauft werden. Damit sei die Menschheit von der Grossen Mutter befreit.

9. Zusammenfassung

Der Idee der Sühne (Hilasterion) liegt der Kreuzestod Jesu zugrunde. Aus dem Wort "öffentlich hinstellen" (protithestai) soll nach heutigen Exegeten der Kreuzestod als öffentliche Manifestation göttlichen Heilshandeln verstanden werden. Dieses Heilshandeln steht im Gegensatz zur kultischen Sühnehandlung, die im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels vom Hohenpriester vollzogen wird, der allein Zutritt in diesen Raum hat. Der Kreuzestod Jesu kann demgegenüber von aller Welt wahrgenommen werden.

Doch es findet eine Verschiebung der Erzählung von Tod und Auferstehung statt. Denn Hilasterion ist der Deckel auf der heiligen Lade (Aaron), d.h. der Deckel auf einem kultisch verehrten Sarg. Mit Hilasterion müsste also sinngemäss von Jesus im Grab oder Jesus über dem Grabe die Rede sein. In dieser Situation wäre Jesus bereits der Auferstandene. Das Ereignis der Auferstehung hat aber genauso im Geheimen stattgefunden wie das rituelle Sühnopfer. Nur stand ihm kein Hohepriester oder Apostel oder sonst ein männliches Oberhaupt gegenüber, sondern Frauen erlebten in der Grabeshöhle das Geheimnis dieses Mysteriums.

In der Aussage von Römer 3,25 sind also zwei Motive miteinander vermischt. "öffentlich hinstellen" (protithestai) lässt zwar an die Öffentlichkeit des Kreuzestod denken, doch weist der Begriff im Zusammenhang mit Hilasterion auf etwas Heimliches hin, etwas Verborgenes hin, auf die Heilige Lade. Die Lade und der Sarg, in dem Jesus lag, sind identisch. Sie stehen für den verschlingenden und wiedergebärenden Aspekt der Grossen Mutter, der aus dem patriarchalen Denken ausgeschaltet werden soll (90). Der unter dem Hilasterion verschwundene Sarg soll auch die Frauen am Grab als erste Zeugen des Auferstandenen ausschalten. Denn verdrängte Inhalte haben die Tendenz, sich in archaischer Form zu manifestieren (91).

Es ist deshalb nicht von ungefähr, dass Paulus dieses Motiv aufgreift. In mehr als zwei Kapiteln hat er erläutert, dass der Mensch nicht durch das Gesetz Heil erwirbt. Das Gesetz (die Thora) wird im antiken Judentum mit der Weisheit (Chokmah) gleichgesetzt. Daher ist in der Überwindung des Gesetzes durch die neue göttliche Heilstat auch die wichtige weibliche Grösse im antikjüdischen Glauben, der Weisheit, überwunden. Doch damit ist sie nicht einfach weg, sondern erscheint genau dort wieder, wo die Heilstat Gottes als allem übergeordneten erscheint: Im Kreuzestod Jesu überwindet Gott seinen Zorn mit seiner Gnade. Gnade (Charis) ist Ausdruck des hebräischen Ra’chamaim (Erbarmen). Ra'chamaim ist der Plural von Rächäm ("Mutterschoss"). Die Gnade Gottes ist in Römer 3,24 eine Eigenschaft Gottes, mit deren Hilfe Gott seinen Zorn hinter sich lässt. Doch mit der befreienden Tat taucht unbeabsichtigt die archaischste Form des Weiblichen auf, der Sarg. Nicht sichtbar zwar, vom Hilasterion verdeckt, der Todesaspekt der Grossen Mutter. Doch ist ihrEngel rechts Todesaspekt nicht endgültig wie der Zorn Jahwes, sondern impliziert die Wiedergeburt, die Auferstehung.

* * Ende * *

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Interpretation von Esther Keller
Text von 1985, letzte Revision im März 2013