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Oben: Hethitische Flügelsonne mit Gleitkufen (Karakuyu, Türkei)
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Kamrušepa,
Sağlık tanrıçası, von Erdinç Bakla
2. Über hethitische Göttinnenw/m
Die Hethiter hatten viele Götter und Göttinnen, zahlreiche Kulte und Mythen. Jedes Mal, wenn sie ein Gebiet oder eine Stadt eroberten, übernahmen sie deren Göttinnen und Götter, und die Liste ihres Pantheons wurde länger und länger. Die Hethiter nannten es selber «die 1000 Götter von Ḫatti» (1). Dazu schreibt der Altorientalist Albrecht Goetze (1897-1971):
Nur wenige der ungezählten Gottheiten gewinnen für uns greifbare Gestalt. …. Am lebendigsten wird uns der Kreis der Sonnengöttin von Arinna. Sie ist die erste Gottheit des Landes, «die Königin des Hethiterlandes», «die im Hethiterlande Königtum und Königinnentum» leitet. Sie ist die oberste Staatsgottheit; vor ihr werden die Urkunden über beschworene Staatsverträge niedergelegt; vor ihr legt der König Rechenschaft ab, indem er seine Taten berichtet. An sie wendet sich der König in Staatsangelegenheiten zuerst; sie hilft ihm in der Schlacht (2).
2.1. Die Sonnengöttin von Arinna (3)
Die Sonnengöttin von Arinna wurde im 2. Jahrtausend v. Chr. von der hattischen Urbevölkerung in Zentralanatolien verehrt. Als Tagessonne hiess sie Eštan, hethitisch Ištanu, als Nachtsonne Wuru(n)šemu (Mutter der Erde) (4). Im Hethiterreich war ihr Kultzentrum das Städtchen Arinna (hattisch «ari+nna»/«Stadt der Quelle») (5), das in der Nähe der hethitischen Hauptstadt Ḫattuša lag. Der Ort Arinna war neben seinen vielen Tempeln auch wegen der Schmiedekunst bekannt (6). Wo sich Arinna befand, weiss man heute nicht. Häufig wird der Ort mit Alaça Höyük identifiziert (ca. 32 km von Ḫattuša entfernt). Da bei den Prozessionen im Frühling und im Herbst viele Anwesende zu Fuss dabei waren, nimmt Maciej Popko an, das sie sich viel näher bei Ḫattuša befand.
Sonnengöttin mit Kind, 15.-13. Jh. v. Chr. aus wikimedia
Die Sonnengöttin wird in den hethitischen Schriften mit dem Sumerogramm DUTU geschrieben (7). Das Problem ist, dass alle Sonnengottheiten mit DUTU geschrieben werden. Hethitologen übersetzen DUTU normalerweise mit «Sonnengott». Auch der Name Ištanu wird häufig als männliche Gottheit verstanden, weil Ištanu ein Königstitel Ištanu-miš «meine Sonne» war. Dieser wird von Altorientalisten automatisch mit dem assyrischen Šmš von Akkad gleichsetzt. Aber auch die Sonnengöttin von Arinna wird in Verträgen ausdrücklich aus Šamaš von Arinna bezeichnet (8). Meines Erachtens handelt es sich bei diesem Majestätstitel um die Sonnengöttin von Arinna, die den König als Verwalter ihres Landes einsetzt hat.
Nach Volkert Haas ist Ištanu ein männlicher Gott (9). Er schreibt:
Die Sonnengöttin der Stadt Arinna ist seit der althethitischen Zeit die höchste Göttin des Staatspantheons, die in der Grossreichszeit mit der syrischen Hebat gleichgesetzt ist. In der hattischen Überlieferung existieren zwei Sonnengottheiten, nämlich der männliche Eštan und die weibliche Wurušimu. Sie ist die während der Nacht in der Unterwelt weilende Sonne, während Estan, hethitisiert Ištanu, der Name der Sonne als Tagesgestirn ist. Mit Wurusimu wird die „Sonnengöttin (von Arinna) bezeichnet, deren mütterlicher Charakter in der althethitischen Königsideologie zu Tage tritt (10).
Jörg Klinger zeigt aber anhand der «Göttern von Zalpa», dass Eštan (hatt.)/Ištanu (heth.) eine Göttin war (11). Auch Maciej Popko ist sich sicher, dass mit Eštan/Ištanu die Sonnengöttin von Arinna gemeint ist (12). Er schreibt in «Arinna – Eine heilige Stadt der Hethiter»:
Das hethitische Wort für eine Sonnengottheit lautet Ištanu (aus dem hatt. Eštan), und es ist sicher, dass die Sonnengöttin von Arinna unter diesem Namen bekannt wurde. Darauf weist vor allem die Schreibung dieses Namens mit dem phonetischen Komplement -u- in KUB 28,6 Vs. II 12 URUPU-na-as dUTU-uš hin, wobei das Epitheton «von Arinna» die Identifizierung der Göttin bestätigt. Ausserdem sprechen dafür solche Kontexte wie IBoT 1,29 Vs. 63, in dem DIštanu im Paar mit DTaru vorkommt. Da mit DTaru der hattische Wettergott, in diesem Fall der Hauptgott von Hattuša gemeint ist, darf geschlossen werden, dass hier als DIštanu nur die Sonnengöttin von Arinna in Betracht kommen kann (S. 27).
Auch Daisuke Yoshida weist darauf hin, dass Ištanu, hattisch Eštan weiblichen Geschlechts sei.
Die Belegslage bestätigt nun, das Ištanu in sehr engem Verhältnis zur Sonnengöttin (von Arinna) gestanden hat, während sich kein direkter Berührungspunkt zwischen Ištanu und dem männlichen Sonnengott nachweisen lässt (13).
Seit der spätmittelhethitischen Zeit (1450 bis 1380 v. Chr.) wurde die Sonnengöttin auch «Göttin des Himmels» genannt (14). So betete in der Zeit des hethitischen Grossreiches der Grosskönig Muwatalli II. (ca. 1294-1272 v. Chr. ) zu ihr als Himmelsgöttin:
Sonnengöttin von Arinna (und) Hepat, Königin des Himmels
In diesem Satz erscheint nach Volkert Haas die Göttin Ḫepat als Attribut der Sonnengöttin von Arinna (15).
2.2. Sonnengöttin von Arinna und Himmelsgöttin Ḫepat
Im 13. Jh. v. Chr. verschmolz die Grosskönigin Puduhepa die Sonnengöttin von Arinna mit der hurritischen Göttin Ḫepat (dt. Eva) zu einer Gottheit. Sie betet:
Sonnengöttin von Arinna, meine Herrin, aller Länder Königin! Im Hatti-Lande setztest du dir den Namen Sonnengöttin von Arinna, ferner aber in dem Lande, das du zu dem der Zeder machtest, setztest du dir den Namen Ḫepat (16).
Siegel der Königin Puduhepa auf dem Friedensvertrag zwischen Ägypten und Hethitern aus «Frauen machen Geschichte», 11.08.2013 – mit der geflügelten Sonnenscheibe als Darstellung der «Sonnengöttin von Arinna»
Die Grosskönigin Puduhepa war eine hurritische Priesterstochter aus Kizzuwatna (Kilikien) und selber Priesterin der hurritischen Göttin Šawuška (Ištar) von Lawazantiya. Als sie mit 15 Jahren Ḫattušili III. geheiratet hatte, kam sie in die Hauptstadt Ḫattuša, wo sie auf der Burg zunächst schwangere Frauen betreute und eine Schar kleiner Prinzen und Prinzessinnen hütete. Sie lernte hier auch die Bedeutung der Sonnengöttin von Arinna für das Land kennen und verschmolz sie mit der hurritischen Göttin Ḫepat, um der Bevölkerung zu zeigen, dass sie schon immer die Sonnengöttin von Arinna angebetet hatte (17).
Nach allgemeinen Konsens stand im offiziellen Reichspantheon seit der mittelhethitischen Zeit häufig ein himmlischer Sonnengott an erster Stelle vor der Sonnengöttin von Arinna. Dies gehe auf den syrischen Einfluss des Sonnengottes Šamaš, aber vor allem auf den Einfluss des ägyptischen Sonnengottes Re zurück. Von Muwatalli II. ist dazu eine Liste überliefert:
Der himmlische Sonnengott, die Sonnengöttin von Arinna, der Wettergott von Arinna, Mezzulla, Hulla , Zintuhi, männliche Gottheiten, weibliche Gottheiten, Berge (und) Flüsse von Arinna, der Wettergott ehellibi (und) der Wettergott Suhurribi (KUB 6,45 Vs. 1, 37ff.)
Wie ich aber in Kapitel 1.2.2. am Beispiel des hethitisch-ägyptischen Friedensvertrag gezeigt habe, ist der männliche Sonnengott identisch mit der Sonnengöttin von Arinna. Offenbar war in internationalen Verträgen der männliche Gott an der Spitze wichtig. Der Sonnengott gehörte jedoch nicht zum hattischen Göttinnen-/Götterkreis von Arinna, wie eine andere Liste von Muwatalli II. zeigt:
Der König (Muwatalli II.) opfert vier (Gottheiten) reihum: Sonnengöttin, Wettergott, Mezzulla und Hulla (dann folgt ein nicht zu übersetzender Text, der wohl die Göttin Zintuhi meint) (18).
Zum himmlischen Sonnengott in der ersten Liste schreibt E.O. James:
The Queen of the Land of Hatti, Heaven and Earth, Mistress of the Kings and Queens of the Land of Hatti, directing the Government of the King and Queen of Hatti, but unlike the Hurrian Hebat she was essentially a solar deity. Her relationship, however, with the male Sun god was never clearly established (19).
2.3. Über Hattier und Hethiter
Die Hethiter nannten ihr Land «das Land Hatti». Das Kernland lag in Zentralanatolien innerhalb des Flussbogens Kizil Irmak, «Roter Fluss», weil eisenhaltig. Die alten Griechen nannte ihn Halys und die Hethiter Maraššantiya (20). Die Hauptstadt der Hethiter war Ḫattuša.
«Karum» aus wikimedia.com
Der Name Hatti geht auf die Bevölkerung zurück, die im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. eine reiche Kultur, Religion und Staatswesen geschaffen hatte. Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. kamen Indogermanen von Südrussland nach Zentralanatolien. Sie selber nannten sich Neši, ihre Sprache war nesisch. Der Name taucht anfangs des 2. Jahrtausend vor Chr. in assyrischen Tontafeln auf, die bei Kültepe (Kaniš) ausgegraben wurden. Kaniš war die zentrale assyrische Handelsstadt, die für alle Rechtsfragen der assyrischen Niederlassungen zuständig war. Kaneš war aber auch Zentrum der Neši, die die Stadt auch Neša nannten.
Nach Trevor Bryce dürften die Indogermanen der Neši Ende des 3. Jt. oder anfangs des 2. Jt. v. Chr. von Maikop (Südrussland) nach Anatolien gekommen sein (21). Da aus dieser Zeit keine Kriegsspuren auszumachen sind, dürfte eine friedliche Vermischung der Indogermanen mit den einheimischen Hattiern stattgefunden haben. Im 17. Jahrhundert v. Chr. wurde das althethitische Reich gegründet, Details liegen im Dunkeln. Der erste historisch belegte Herrscher ist Ḫattušili I., der offenbar von seinem Grossvater L/Tabarna I. das Reich geebt hatte. Der hethitische Staat, ihre Kultur und Religion war stark von den Hattiern geprägt, während die einheimischen Hattier wohl die hethitische Sprache übernommen hatten (22). Da jede hattische Stadt ihre Sonnengöttin hatte (23), wurden sie von den Hethitern in der Sonnengöttin von Arinna zusammengefasst in die Tagessonne Ištanu und in die Nachtsonne Wuru(n)šemu. Von dieser Zusammenführung ist wohl auch der Satz zu verstehen, wonach die Sonnengöttin ihren Wohnsitz selber ausgesucht hat:
Den Göttern gibt man (ihre Sitze). Die Sonnengöttin setzte sich in Arinna (24).
Unter Suppiluliuma I. (1355-1320 v. Chr.) und seinem Sohn Muršili II. erreichte die hethitische Herrschaft ihre grösste Ausdehnung. Von Mursilli II. ist ein Gebet an die Sonnengöttin von Arinna als Universalgöttin überliefert (25). Er betet:
Du, Sonnengöttin von Arinna, bist eine angesehene Gottheit.
Dein Name ist unter den Namen angesehen.
Deine Göttlichkeit ist unter den Göttern angesehen
Gross auch bist du, Sonnengöttin von Arinna.
Es gibt keine andre Gottheit, mehr angesehen und grösser als du.
Gerechten Gerichtes Herrin bist du.
Über Himmel und Erde übst du gnädig die Königsherrschaft aus.
Der Länder Grenzen setzest du.
Die Klagen erhörst du.
Du, Sonnengöttin von Arinna, bist eine milde Gottheit, du.
Mildheit übest du.
Der begnadete Mann ist dir, Sonnengöttin von Arinna, lieb.
Ihm gewährst du, Sonnengöttin von Arinna, Verzeihung.
Im Runde von Himmel und Erde bist du, Sonnengöttin von Arinna, die Leuchte.
In den Ländern bist du die gefeierte Gottheit.
Jedes Landes Vater und Mutter bist du.
Des Gerichtes begnadete Herrin bist du.
An der Stätte des Gerichts gibt es für dich kein Ermüden.
Unter den uralt-ewigen Göttern bist du die gefeierte.
Den Göttern bereitest du, Sonnengöttin von Arinna, die Opferriten.
Der uralt-ewigen Götter Anteil teilst du zu.
Fast die ganze Zeit des Hethiterreiches bedrohten Kaskäer im Norden Anatoliens das Land. Als Ḫattušili III. (13. Jh. v. Chr.) das wichtige hattische Kultzentrum des Wettergottes, Nerik, von den Kaskäern zurückerobert hatte, wurde er von seinem Bruder Muwatalli II. (ca. 1294-1272 v. Chr.) zum König von Ḫakmiš und Nerik eingesetzt. Dabei stand er unter dem Schutz des Wettergottes, dessen Priester er wurde. Als Ḫattušili III. sich später auf den hethitischen Thron setzte, war die «Sonnengöttin von Arinna, meine Herrin, Königin aller Lande» (26) Schutzherrin von Nerik. Und so setzte die Sonnengöttin den Grosskönig Ḫattušili sakralrechtlich zum König von Ḫakmiš und Nerik ein:
Der Platz an dem du uns, Sonnengöttin von Arinna einsetztest,
ist der Ort des Wettergottes von Nerik, deines geliebten Sohnes“ (27).
Ḫattušili III. stand seit Kindheit, die geprägt war von einer Krankheit, unter dem besonderen Schutz der Ištar von Šamuḫa und war auch deren Priester (28). Nachdem er Urḫi-Teššub (Muršili III.) abgesetzt hatte, war er:
der Liebling der Sonnengöttin von Arinna, des Wettergottes von Nerik und der Ištar von Samua (29).
Zur Regierungszeit seines Bruders, des Grosskönigs Muwatalli II. war Ḫattušili III. ihm eine starke Stütze. Denn er befriedete den Norden des Hethiterreiches und füllte die Städte mit Menschen. Nach der Schlacht von Kadeš in Syrien gegen Ramses II. verfolgte er die Ägypter bis nach Damaskus und residierte eine Zeitlang dort – wie lange ist heute nicht bekannt. – Auf der Rückkehr nach Anatolien heiratete er die Priesterin Puduhepa, setzte später seinen Neffen Muršili III. (Urḫi-Teššub) ab und wurde hethitischer Grosskönig (30) (ca. 1266-1236 v. Chr.). Er und Puduhepa schlossen mit Ramses II. den berühmten ersten Völkervertrag. In diesem Vertrag setzten die Ägypter die hethitische Staatsgöttin mit ihren Hauptgöttern Re und Seth gleich:
The Re, the Lord of the Sky; the Re of the Town of Arinna; Seth,
the Lord of the Sky, Seth of Hatti; Seth of the Town of Arinna,... (31)
Map of the Hittite Empire at its greatest extent under
Suppiluliuma I (c.1350–1322) and Mursilli II (c.1321–1295), aus wikimedia
2.4. Hethitische Königinnen
Die hethitischen Grossköniginnen vertraten die Sonnengöttin von Arinna auf Erden. Starb eine Königin, wurde sie zu einer geflügelten Sonnenscheibe, zur Sonnengöttin von Arinna. So beschreibt Volkert Haas ein Ritual an die verstorbenen Königinnen wie folgt:
… Man stellt die sechs Kultbilder der Sonnengöttin auf sechs Tische: Nachdem man sie gewaschen, gesalbt und wieder auf die Tische zurückgestellt hat,
tritt die Königin aus dem Innengemach: Die Prinzen bringen ihr das Wasser zum Waschen der Hände, der Priester reicht ihr das Handtuch,
mit dem sie sich die Hände abtrocknet. Dann verneigt sie sich vor der Sonnengöttin von Arinna und weiht ihr sieben Lämmer in der folgenden Weise:
Zwei Lämmer erhielt die «Sonnengöttin von Arinna der Walani'»
ein Lamm die «Sonnengöttin von Arinna der Nikka[lmadi]»,
ein Lamm die «Sonnengöttin von Arinna der Asm[unikkal]»,
ein Lamm die «Sonnengöttin von Arinna der Dud[ubeba]»,
ein Lamm die "Sonnengöttin von Arinna der lJenti» und
ein Lamm der «Sonnengöttin von Arinna der Taw[ ananna]".
Man treibt die Lämmer in die [Küche], wo man sie schlachtet und das
Fleisch zerlegt. Die erste Opferrunde besteht aus den gebratenen
Lebern und Herzen, die zusammen mit einem Brotgericht auf die sechs
Tische gestellt werden. ….. (32).
2.5. Tontafeln von Ḫattuša
Die Kenntnisse über die Hethiter und ihre Geschichten haben wir aus Zehntausenden Tontafeln, die seit Anfang des letzten Jahrhunderts an verschiedenen Orten Anatoliens ausgegraben worden sind (33). Mehr als 30‘000 Tontafeln kamen beim Dorf Boğazkale (früher Boğazköy) (34) zu Tage. Denn hier befand sich Ḫattuša, die Hauptstadt der Hethiter.
Zur hethitischen Sprache weist Ahmed Ünal darauf hin, dass es sich um eine einfach Sprache handelt und dass sie über keinen reichen Wortschatz verfügt. Deshalb wurden die Erzählungen einfach gehalten. Auch wurden Texte aus anderen Sprachen übersetzt. Da sind jedoch keine wortwörtlichen Übertragungen zu erwarten sondern eher Nacherzählungen nach dem Gutdünken des jeweiligen Schreibers. Ahmed Ünal schreibt:
Die Hethiter haben diese Mythen revidiert, erweitert oder gekürzt oder je nach ihren eigenen literarischen Vorlieben neu gestaltet (35).
Wenn ich Übersetzungen von Texten lese, fallen mir häufig inhaltliche Widersprüche auf. Die Antwort zu solchen Divergenzen beschreibt Theo P.J. van den Hout (36):
Das Interessante dabei ist, dass die Masse dieser Texte als Ganzes einer einzigen Sammlung und einer einzigen Verwaltung angehören. Es ist zum Beispiel nicht so, dass die althethitischen Fragmente einer archäologisch älteren Schicht entstammen, oder Texte eines bestimmten Fundortes einer anderen Zeit angehören, sonder sie bildeten, als die führende Klasse sich kurz nach 1200 v. Chr. entschloss, die Hauptstadt zu verlassen, zusammen mit den jüngeren Tafeln Bestandteil einer einzigen Sammlung (S. 90).
Die in Ḫattuša gefundenen Tontafeln sind also der Eliteschule des hethitischen Grossreiches um 1200 v. Chr. zuzuordnen. Dabei hatten sich die Schreiber immer mehr den international Gepflogenheiten im Alten Orient angepasst, die nicht den Wertvorstellungen im Lande entsprachen. Als Beispiel scheint mir die Erzählung von «Appu von Šudul» passend zu sein. Es ist ein Märchen oder eher ein Schwank zur Belustigung und Belehrung des Volk. Die Erzählung wurde von Elisabeth Rieken ins Deutsche übersetzt und ist in «HethitologiePortal Mainz» veröffentlicht. Das Märchen geht auf die mittelhethitische Epoche (1450-1350 v. Chr.) zurück und ist von mesopotamischen und hurritischen Mythen (37) beeinflusst. Der uns vorliegende Text stammt aber aus einer Abschrift der erwähnten Zeit des Grossreiches (38).
2.6. Das Märchen von Appu und seinen Söhnen
So wie ich die Erzählung verstehe, ist sie aus zwei Teilen zusammengesetzt, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, und zwar die Erzählung der beiden Geschwister namens «Schlecht» und «Gerecht», die am Anfang als Prolog eingeführt wird und am Schluss lose mit dem Schwank «Appu von Šudul» verbunden ist. Das es hier um zwei unabhängige Stücke geht, sieht man schon daran, dass Appu ein unermesslich reicher Viehzüchter war, während die beiden Geschwister zwei Rinder erbten.
2.6.1. Appu von Šudul
Der Schwank beginnt mit dem Spruch einer Sonnengottheit DUTU, die den gerechten Menschen erhöht und den schlechten vernichtet. Normalerweise wird das Akkadogramm DUTU mit «Sonnengott» übersetzt, obwohl der Begriff wie in Kapitel 2A erwähnt, auch eine Sonnengöttin meinen kann. Dies wird auch dieser Text bestätigen. Elisabeth Rieken übersetzt:
Par. 1 | 1. | [....] |
2. | [ ...], der die [g]er[echt]en Menschen er[h]öht, | |
3. | die schlechten Menschen [aber] wie Holz fällt, | |
4 | den schlecht[en] Menschen aber die šakšakila- auf ihre Schädel schlägt | |
5 | [und] sie vernichtet (39). |
Das ist der Prolog zur Auseinandersetzung der beiden Geschwister am Ende der Geschichte. Zuerst wird aber die Geschichte der Eltern entfaltet, der Vater wie folgt vorgestellt:
Par. 2 | 6 | (Es war einmal) eine [S]tadt – [Š]udul ist ihr Name – |
7 | und das Land von Lulluwa befindet sich am Meer, an seinem Ufer. | |
8 | (Dort) oben (gibt es) einen Mann, | |
9 | Appu (ist) sein Name. | |
10 | Innerhalb des Landes ist er der Reich(ste) | |
11 | Seine Ri[nde]r und Schafe (sind) vi[e]l (an der Zahl). | |
Par. 3 | An Sachen von Silber, Gold, Lapuslazuli aber ist ihm (so viel) wie ein ganzes Getreidesilo zusammengescharrt (Übersetzung von Volkert Haas). |
Nach sumerischer Vorlage lag das genannte Land Lulluwa oder Lullubum im Zagrosgebirge nordöstlich von Kirkuk; das Ufer des Meeres wäre folglich das Kaspische Meer. In dieser Erzählung sind die Ortsangaben aber als Metapher für ein Land zu verstehen, das sich in weiter Ferne befindet. – An jenem Ort wohnte einst der Mann Appu: Er war Viehzüchter und unermesslich reich, so reich, dass sein Gold, Silber und Lapizlazuli ein ganzes Getreidesilo füllen konnten (40). - Doch Appu war kinderlos, hatte weder Sohn noch Tochter. Irgendwie funktionierte die Zeugung im Ehebett nicht. Eines Tages sass er mit den Ältesten zusammen, und jeder der Männer gab seinem Sohn zu essen und zu trinken. Nur Appu hatte keinen Sohn, um ihm etwas zu geben. Frustriert ging er nach Hause und legte sich ins Bett – angezogen in seinen Kleidern, sogar die Stiefel hatte er an. Seine Frau, die sich schon immer lautstark darüber beklagte, dass ihr Mann – ein reicher Viehzüchter - sie nicht richtig beschlafe, legte sich ebenfalls vollständig angezogen zu ihm ins Bett. Nichts geschah, doch als er nachts aufwachte, fragte sie ihn aufgeregt, ob er sie bereits klamm heimlich richtig beschlafen habe. Er schnauzte sie an:
Du bist nur ein Weib von Weiberart und verstehst nichts! (V. 36f.)
Dann stand er wütend auf, nahm ein weisses Schaf, um es dem Sonnengott (dUTU-uš) zu opfern (41). Dieser schaut vom Himmel herab und verwandelte sich in einen jungen Mann, der dem Appu begegnete und ihn nach seinem Kummer fragte.
Par. 9 | 47 | Appu] hörte (dies). |
48 | Er begann, ihm zu ant[wort]en: | |
49 | «Man hat mir Reichtum gegeben. | |
50 | Man hat [ ... ] gegeben? | |
51 | [M]ir fe[hl]t (nur) eine Sache: | |
52 | Weder Sohn noch To[cht]er habe ich.» | |
53 | Der Sonnengott hörte (dies) | |
54 | und begann, ihm zu a[n]tworten: | |
55 | «Geh (und) trinke! | |
56 | und betrinke dich! | |
57 | Geh in dein Haus. | |
58 | Schlafe gut mit deiner Frau. | |
59 | Die Götter (DINGIRMEŠ) werden einen Sohn dir ins Bett geben» (42). |
Der göttliche Ratschlag wurde befolgt und Appus Frau schwanger.
Nach dieser Unterredung setzte der Sonnengott seine Bahn am Himmel fort. Der Wettergott wartete schon ungeduldig auf ihn:
Par. 10 | 60 | Appu hörte (dies) |
61 | und ging zurück in sein Haus. | |
62 | Der Sonnengott aber ging hinauf in den Himmel. | |
63 | Der Wettergott bl[ic]kte dem Sonnengott drei Meilen (entfernt) entgegen. | |
64 | Er begann, zu seinem Wesir zu sprechen: | |
65 | «Dort hinten kommt e[r], der [Sonn]engott, der Hirte der Bevölkerung» LÚSIPA-[UDU]-[a]š. | |
66 | Das Land ist ni[ch]t irgendwo zu Grunde gegangen, oder? | |
67 | Die Städte sind wohl nicht irge[n]dwo verödet, oder? | |
68 | Die Truppen sind wohl nicht irgendwo geschlagen, oder?» |
Eigentlich wäre der Wettergott für die Zeugung zuständig und nicht der Sonnengott. In diesem Text stellt der Wettergott aber zu Hause fest, dass auf Erden kein Streit im Gange war, wo er eingreifen müsste. Für Volkert Haas passt dieser Satz «nicht sonderlich in diese Erzählung» (43). Für mich schon. Denn der Wettergott kann jetzt in aller Ruhe mit dem Sonnengott, dem Schafhirten (LÚSIPA-[UDU]) genüsslich den Abend verbringen gemäss dem Sprichwort: «Wie im Himmel so auf Erden». In diesem Sinne erwartete der Wettergott den Sonnengott sehnsüchtig, um mit ihm Tisch und Bett zu teilen. Und so beauftragt er seinen Wesir:
Par. 11 | 69 | «Beauftragt den Koch (und) den M[und]schenk. |
70 | Geb[t] ihm zu ess[en (und) zu tr]inken.» | |
71 | Er kam [ ... ] | |
72 | Dor[t ... ] ihn [ ... ] | |
73 | Der Wettergott [ ... ] den? Sonnengott, | |
74 | und er [begann], ihn zu fr[agen]: |
Das Gespräch am göttlichen Gelage ist nicht überliefert. - Aber im Befehl des Wettergottes an seinen Wesir sehe ich den Auftakt im Himmel zu dem, was Appu nun zu Hause macht. Denn so wie Appu heimkommt, kommt der Sonnengott jetzt heim, um zu essen/trinken und mit dem Wettergott gut zu schlafen. Denn schliesslich war der Sonnengott Mutter zahlreicher Wettergötter.
Trotz meinen wenigen Hetithitischkenntnissen, dafür mit bester Erfahrung mit unserem objektiv-wissenschaftlichen Denken, das in Bezug auf hethitische Übersetzungen wie die späte hethitische Elitenschule patriarchaler Richtlinien unterworfen ist (44), möchte ich hier eine Interpretation zu LÚSIPA-[UDU]-[a]š wagen:
- LÚSIPA-[UDU]-[a]š:
- aš ist Genitiv singular (45)
- LÚSIPA-[UDU]: «Schafhirt, Hirt». LÚ bedeutet Mann) - Sipand- (sip(p)and): «spenden, opfern» (46)
Wir erinnern uns, dass Appu ein weisses Schaf mit zum Kultplatz genommen hatte. Dieses Schaf kommt in der vorliegenden Abschrift nicht mehr vor, dafür begrüsst der Wettergott die herangleitende Sonnengöttin mit «Dort hinten kommt e[r], der [Sonn]engott, der (Schaf-)Hirte der Bevölkerung». Der «Hirte der Bevölkerung» kann hier als Einschub des späten Schreibers verstanden werden, um klarzustellen, dass er die neuere männliche Variante der Sonnengöttin bevorzugt. Damit verändert er aber auch den Sinn der Begrüssung, führt ihn ins Absurde. Das kann er sich nur leisten, wenn jeder hethitische Zuschauer/jede Zuschauerin des Spektakels wusste, dass der Sonnengott in Wirklichkeit eine Göttin ist. So ist DUTU ein Akkadogramm, das aber in hethitischer Sprache vorgelesen wurde (47). Dabei entsteht ein gewisser sprachlicher Spielraum. Den «Hirten der Bevölkerung» kann man wie folgt interpretieren:
- Der Vortragendew/m /der Leserw/m kann unter DUTU immer noch die Sonnengöttin verstehen und sie überdies mit der berühmten Hirtengöttin Hapantali(ya) (48) in Verbindung bringen.
- Auch konnte der Schreiber der hethitische Elitenschule mit LÚSIPA-[UDU]-[a]š/ (Schaf-)Hirte einen ursprünglichen Satz verändert haben, der davon handelte, wie Appu der Sonnengöttin sein weisses Schäfchen/UDU opferte/Sipand- (sip(p)and).
Dass in V. 42 ein junger Mann als Priester der Sonnengöttin dem Appu entgegentritt, kann als freie Übersetzung des späten Schreibers interpretiert werden. Andererseits ist das Geschlecht einer hethitischen Priesterin/eines Priesters nicht abhängig vom Geschlecht der betreffenden Gottheit. So gibt es etwa «einen Priester der Göttin der Nacht» oder eine «Frau des Wettergottes» (49).
In unserem Text ist auch der Satz des jungen Mannes/Priesters an Appu auffällig:
59 Die Götter (DINGIRMEŠ) werden einen Sohn dir ins Bett geben (50).»
Normalerweise sind es Göttinnen, die bei der Geburt zugegen sind. So sieht Volkert Haas die Volksmedizin vor allem in den Händen von Göttinnen und Magierinnen, die vor allem bei Schwangerschaftsstörungen und Entbindung angewendet wurde und deren Tradition weit in die neolithische Zeit reichte (51).
In der Erzählung V. 89ff. gebar die Frau des Appu einen Sohn, den der Vater «Schlecht» nannte mit der Begründung:
Par. 15 | 98 | «Da ihm meine väterlic[hen] Götter nic[ht] den rechten Weg [wählten] |
99 | und den [bös]en Weg (beibe-)hielten, | |
100 | soll sein Name [‚Schlech]t‘ sein.» |
Die Frau wurde wieder schwanger und gebar einen zweiten Sohn. Appu nannte ihn «Gerecht», weil:
Par. 16 | 109 | «Fo[rtan] soll man ihn mit dem Namen Gerecht rufen. |
110 | Da für ih[n] meine [väterlich]en Götter den rechten Weg einschlugen | |
111 | [und den guten Weg beibehielten,] | |
112 | soll (sein) Name fortan ‘Gerecht’ sein.» |
«Die Götter der Väter» kennen wir ja auch aus dem Alten Testament (II. Mose 3). Da sind sie als El Schaddaj «Gott der Mutterbrüste» (etwa I. Mose 17,1) zusammengefasst und weisen auf weibliche Götter, die einst die Väterw/m angebetet haben (Jos. 24,2).
2.4.3. Die beiden Brüder «Schlecht» und «Gerecht»
Im Schwank von «Appu von Šudul» beginnt ab Paragraph 17 V. 113 die Geschichte der beiden Söhne als erwachsene Männer, die ihre Eltern beerbten und im Prolog vorbereitet worden war. In der Erzählung beansprucht der ältere Bruder «Schlecht» für sich das wertvolle Pflugrind und überliess seinem Bruder «Gerecht» die minderwertige Kuh. Doch die Sonnengöttin DUTU schaut vom Himmel herab zu und beschloss:
Par. 22 | 148 | DUTU [sa]h vom Himm[el herab]. |
149 | «Fortan soll die [K]uh [ ... ]gut werden. | |
150 | Sie soll [ ... ] gebären.» |
Dieser Satz passt wie bereits erwähnt am ehesten zur Sonnengöttin. Da der jüngere Bruder grösseren Gewinn machte, ging der älter vor das Gericht der Sonnengöttin. Doch diese liess «Gerecht» den Prozess gewinnen. «Schlecht» fluchte der Göttin. Da entschied sie, dass die Brüder ihren Streit vor Ištar von Ninive trugen. Da hier der Text fehlt, kann man nur vermuten, dass «Gerecht» auch bei der assyrischen Göttin Ištar von Ninive gewinnt und damit das Urteil rechtsgültig ist, und der Gerechte seine Belohnung und der Schlechte seine Bestrafung erhält, wie am Anfang der Erzählung die Sonnengöttin vorhergesehen hatte.
Nach heutigem Konsens geht es in diesem Schwank um zwei rivalisierende Kulturen, um das Bauerntum und der Viehzucht, wobei die Viehzüchter von den Göttern den Vorrang bekamen. Eine Geschichte, die im Alten Orient häufig erzählt wurde. Als Beispiel kennen wir die Geschichte von «Kain und Abel» oder «Esau und Jakob» aus der Bibel. So wie ich die Geschichte lese, ist sie aber nicht aus einem Guss. Die Grundlage bildet eine Erzählung, die von einem Sohn und einer Tochter ausgeht. Sie wird eingeführt mit «Appu ist sehr reich, hatte aber weder Sohn noch Tochter» genau so wie aus hethitischen Geburtstexten zu entnehmen ist:
Par. 11. And if a male child is then born, then the midwife thus
speaks:
«Look! Now I have brought the goods of a male child.
But next year I will certainly bring the goods of a female child!»
If it is a female child, then she speaks thus:
«Now – look! - the goods of a female child I have brought.
But next year the goods of a male child I will certainly bring!» (52)
Diese Bitte äussert auch Appu vor dem jungen Priester des Sonnengöttin:
[M]ir fe[hl]t (nur) eine Sache: Weder Sohn noch To[cht]er habe ich!
Doch in diese Erzählung schiebt sich eine neuere, patriarchale Schicht: So füttern die Ältesten ihre jeweiligen Söhne und setzen damit die Pflicht der Mütter fort, die für die Ernährung der Kleinkinder zuständig waren. Doch dieser Absatz mutet wie ein Einschub an, um den Grund für die Begegnung Appus mit DUTU zu geben, ebenso die lustige Szene im Ehebett, wo die Ehefrau als dümmliche Zicke hingestellt wird, weil sich das Patriarchat ja gerne auf Kosten von Frauen amüsiert – denken wir nur an heutige Fernsehkrimis, wo 99,9% aller Mörder weiblich sind, was überhaupt nicht der Realität entspricht. - Die Geschichte kommt ohne diese Einschübe aus: Da ist ein Mann und sehnt sich nach Kinder, nimmt ein weisses Schaf und geht in den Tempel/in den heiligen Hain und bittet den Priester der Sonnengöttin um Hilfe.
«Shaushka/Isthar in Nordsyrien», aus wikipedia.org
Dass Eltern mehrere Söhne respektive Töchter haben können, ist schon klar. Aber in dieser Geschichte entspricht dies nicht der Klage, die Appu der Sonnengöttin vorgetragen hatte. Wenn Appu von Šudul vor DUTU jammert, er habe weder Sohn noch Tochter und ihm wird sein innigster Wunsch gewährt, dann müsste man annehmen, dass er zunächst Vater eines Sohnes wird und dann einer Tochter. In diesem Sinne wäre der erstgeborene Sohn «Schlecht» genannt, die Tochter «Gerecht». Das dürfte der ursprüngliche Sinn gewesen sein, denn wie gesagt, der uns vorliegende Text ist eine späte Abschrift. Am Schluss siegt der jüngere Bruder/die Schwester vor dem obersten Gericht. Und der oberste Richter ist kein männlicher Sonnengott sondern die Göttin Ištar von Ninive.
Der zweite Teil der ganzen Erzählung mutet für mich eher polemisch an, da will doch jemandw/m das hethitische Patriarchat auf die Schippe nehmen. Wie die Hethiterw/m diese Episode verstanden haben, wissen wir nicht. Aber für mich im Jahre 2021 n. Chr. ist die Erzählung voller Spott: So will der Erstgeborene unbedingt das männliche Pflugrind, das mehr wert sei! Das Pflugrind war aber normalerweise ein Ochse. Der/die Zweitgeborene erhält die Kuh, die im Text betont als minderwertig bezeichnet wird. Die Kuh braucht Zeit, Geduld und Pflege bis sie «Rendite» abwirft. Doch DUTU ist Geburtsgöttin. Und so heisst es im Text:
DUTU jedenfalls schaut vom Himmel herab und
liess die Kuh zahlreiche Kälber gebären.
Der Ältere, der MANN wird benachteiligt. Deshalb zieht er gegen die Schwester vor DUTUs Gericht. Seine Klage wird abgeschmettert und vor das Gericht der Ištar von Ninive, Königin/MUNUS.LUGAL (53) weiter gezogen. Doch Ištar scheint der gleichen Meinung wie DUTU zu sein und gibt der Zweitgeborenen recht.
2.7. WETTERGÖTTER
Bei der Erzählung «Appu von Šudul» finde ich es auch merkwürdig, dass Appu nicht zum Wettergott geht, der ja eigentlich für die Zeugung zuständig war, genauer seine verjüngte Ausgabe, sein Sohn Telipinu.
2.7.1. Telipinu-Mythos
Nach CTH 324 ist Telipinu der Frühlingsgott, ein egozentrischer, unbeherrschter Haufen, eine chaotische Naturmacht. Um sich seiner eigentlichen Aufgabe, der Zeugung und Vegetation zu widmen, musste er zuerst von den zwei mächtigen Göttinnen Hannahanna und Kamrušepa gefunden und gebändigen werden . as heisst, ohne die beiden Göttinnen Hannahanna und Kamrušepa läuft in der Fortpflanzung gar nichts! (vgl. Patriarchat 1).
Zum Telipinu-Mythos (CTH 324) wurden offenbar verschiedene Abschriften in mittelhethitischer und junghethitischer Sprache gefunden. Nach Volkert Haas reicht der Mythos bis ins Neolitikum zurück und wurde von Elisabeth Rieken ins Deutsche übersetzt. Im mittelhethitischen Telipinu-Mythos (CTH 324.1) geht Telipinu fort, niemand weiss, wo er sich aufhält, doch in dieser Zeit verdorrte das Getreide, es gab keine Früchte, keine Tiere wurden trächtig wurden noch Frauen schwanger. In dieser Zeit der Not lud der grosse Sonnengott (55) alle tausend Götterw/m zu einem Fest ein. Doch auf dem Fest hungerten sie und stellten fest, dass Telipinu fehlte. Der Sonnengott liess den Adler suchen, ohne Erfolg. Besorgt legt sich nun der Wettergott dIM-aš (V. 48) ins Zeug. Er braust erfolglos durch die Gegend, um erschöpft vor den Toren der Stadt niederzusinken (V. 67-73). – Da nimmt die göttliche Grossmutter Hannahanna die Sache in die Hand. Sie schickte eine Biene los. Der Wettergott, gewohnt an Getöse und grossartigem Getue (56), protestiert. Doch Hannahanna lässt sich nicht beirren, und die winzige Biene findet den schlafenden Telipinu. Um ihn zu wecken, sticht sie ihn, und Telipinu tobt wie ein Verrückter, niemand konnte ihn besänftigen – ausser die Heilsgöttin Kamrušepa. Sie beauftragt den Adler, den Stachel aus dem Körper Telipinus zu ziehen, was diesem unter ihrer Anordnung auch gelingt.
So wie ich den Mythos lese, spielen die höchsten Götter, der Wettergott und der Sonnengott/die Sonnengöttin eine erbärmliche Rolle: Beide suchen verzweifelt nach Telipinu, dem Sohn des Wettergottes, um der Hungersnot Einhalt zu gebieten. Der Sonnengott beauftragte den Adler, um ihn zu finden – ohne Erfolg. In der Zwischenzeit braust Tarhunta im Sturmwind daher, um dann aus Verzweiflung vor den Toren der Stadt zusammenzubrechen. – Was für ein Anblick: die hungernden und dürstenden Gästew/m des Sonnengottes, ein erfolglos suchender Adler, und der mächtige Sturmgott, «Gott des Himmels» und «heldenhafter König aller Länder» wimmernd am Boden vor den Toren der Stadt kauernd! - Also das sind die höchsten und mächtigsten Götter im hethitischen Pantheon! – Um den Telipinu zu finden, muss die Grossmutter Hannahanna eingreifen. Und um ihn zu beruhigen, steht ihr die mächtige Sonnen- und Heilsgöttin Kamrušepa zur Seite.
2.7.2. Hedammu-Mythos
Doch der in unserer Fachliteratur so offen bewunderte Wettergott macht auch in anderen Mythen eine klägliche Figur. Und es sind häufig Göttinnen, die die Katastrophen abwenden, etwa während einer furchtbaren Hungersnot wie im Hedammu-Mythos beschrieben (57): Hedammu ist eine Meeresschlange, die alles auf dem Land auffrisst. Als der Wettergott von der Existenz des Hedammu erfuhr, heult er vor Schrecken gleich los: «Fliessen ihm die Tränen wie Kanäle» (S. 154).
Eine Götterversammlung wurde sofort einberufen und Ištar stellte sich zur Verfügung, den Hedammu aus dem Meer zu locken und ihn unschädlich machen.
In das Badehaus ging sie zum Waschen hinein; …
hinein zum Waschen ging sie und wusch sich
… reinigte und salbte sich mit feinem Parfüm;
nun schmückte sie sich;
Liebreize laufen ihr wie Hündlein hinterher.
Šauška/Ištar von Ninive, Relief von Yazilikaya, wikipedia.org
Mit ihren Dienerinnen Ninatta und Kulitta ging sie zum Meeresstrand. Während die beiden Dienerinnen musizieren, entblösst sich Ištar. Hedammu sah sie und wollte sie gleich auffressen. Doch im Gespräch verspricht Ištar sich ihm hinzugeben. Die Schönheit der drei Göttinnen liess ihn erregen und merkt nicht, dass sie ihm wohlriechende Ingredienzen und Aphrodisiaka ins Wasser schütteten. Um sich die Ištar zu erhaschen, kroch er auf dem Bauch, aber mit erigiertem Glied aus dem Wasser. In seiner Wut zerstört er siebzig Städte, bevor er durch die Düfte bewusstlos liegen bleibt. Der Text ist abgebrochen, aber man kann davon ausgehen, dass der grosse Wettergott, der heldenhafte König aller Länder ihn nun besiegen, und die Ordnung im Lande wieder herstellen konnte.
Literaturhinweise:
- wikipedia, «hethitische Mythologie»
- Albrecht Goetze, Kulturgeschichte Kleinasiens, 1957, S. 136
- Zum Bild der Sonnengöttin mit Kind vgl. Dokumentarfilm «The Hittites» wird diese Darstellung als Sonnengöttin von Arinna interpretiert (1 Stunde:50 Minuten)
- Maciej Popko, Arinna – eine heilige Stadt der Hethiter, S. 27: Wuru(n)šemu in den verschiedenen Schreibweisen: althethitisch: Urunzimu; junghethitisch: Urunzimu und Uruntimu. Šemu bedeutet «Land», heute wird sie mit «Mutter der Erde» übersetzt.
- Ch. Girbal in Maciej Popko, «Arinna – eine heilige Stadt der Hethiter», S. 14
- Wikipedia «Arinna»
- Maciej Popko, Arinna, eine heilige Stadt der Hethiter, S. 27
- Daisuke Yoshida, «Untersuchungen zu den Sonnengottheiten bei den Hethitern», S. 1f. Ein weiteres Problem ist, dass in jüngeren hethitischen Schriften vor Ištanu ausdrücklich ein LÚ/Mann steht, darüber in meinem Aufsatz «das Patriarchat».
- Volkert Haas, die hethitische Literatur, S. 164. Volkert Haas, Heidemarie Koch, Religionen des Alten Orients, Teil 1, S. 220.223.226. So auch Albrecht Goetze, Kulturgeschichte Kleinasiens, S 137; Walter Burkert, Fritz Stolz, Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich, S. 62
- Volkert Haas, Hethiter, S. 225
- Jörg Klinger, Untersuchungen zur Rekonstruktion der hattischen Kultschicht, S. 143
- Maciej Popko, Arinna, S. 27, so auch Jörg Klinger, Hethiter
- Daisuke Yoshida, «Untersuchungen zu den Sonnengottheiten bei den Hethitern», S. 2
- Maciej Popko, Arinna, eine heilige Stadt der Hethiter, S. 27
- KUB I 41 Originaltext transkribiert in Volkert Haas, Der Kult von Nerik, S. 110, Anm. 2; Maciej Popko, Arinna – eine heilige Stadt der Hethiter, S. 27
- CTH 384 in Wikipedia „Sonnengöttin von Arinna: KUB XXI,27 transkribierter Text in Volkert Haas, Der Kult von Nerik, S. 110; Volkert Haas, Heidemarie Koch, Religionen des Alten Orients, Teil 1, S. 221.233
- İdil Yıldırım, «The Role of Women in Politics in Hittite Society»; Trevor Bryce, The World of Neo-Hittite
- Maciej Popko, Arinna – eine heilige Stadt der Hethiter, S. 25
- E.O. James, The Cult of the Mothergoddess, S. 88
- Billie Jean Collins, «The Hittites and their World», p. 29f.
- Trevor Bryce, «The Kingdom of the Hittites», p. 12f.
- Billie Jean Collins, «The Hittites and their World», p. 31
- Maciej Popko, Arinna – eine heilige Stadt der Hethiter, S. 32
- KUB 30.29 in Maciej Popko, Arinna, eine heilige Stadt der Hethiter, S. 15.29
- Albrecht Goetze, Kulturgeschichte Kleinasiens, 1957, S. 136
- KUB XXI 27+ Originaltext transkribiert in Volkert Haas, Der Kult von Nerik, S. 18, Anm. 2
- KUB XXI 27+. Originaltext transkribiert in Volkert Haas, Der Kult von Nerik, S. 18, Anm. 3
- Trevor Brice, The Kingdom of the Hittites
- KBo VI 28 aus Volkert Haas, der Kult von Nerik, S. 16
- nach Francis Beyer, ist die Zählung falsch, Hattusili III. wäre eigentlich Hattusili II. in «Ägypten und Anatolien»; genauer Hergang in Trevor Bryce, The Kingdom of the Hittites
- ANET (Ancient Near Eastern Texts relating to the Old Testament) edited by James B. Pritchard, 1955 ed. 2, S. 201
- Volkert Haas, Geschichte der hethitischen Religion, S. 833
- Billie Jean Colins, «The Hittites and their world», S. 1ff.
- Wikipedia «Ḫattuša», 08.05.2020
- Ahmet Ünal, «Weisheitstexte, Mythen und Epen» in «Texte aus der Umwelt des Alten Testaments», Band III, S. 803
- Theo P.J. van den Hout, «Verwaltung der Vergangenheit» in «Hattusa-Bogazköy - Das Hethiterreich im Spannungsfeld des Alten Orients», 6. Colloquium, Würzburg 2006; Colloquien der Deutschen Orient-Gesellschaft (CDOG 6), S. S. 92.
- Volkert Haas, die hethitische Literatur
- Elisabeth Rieken, Einführung in die hethitische Sprache und Schrift, S. 52
- Übersetzter Text CTH 360 von Elisabeth Rieken in www.hethport.uni-wuerzburg.de; Dazu: Volkert Haas, die hethitische Literatur, S. 194ff.; Garry M. Beckman, Hittite Birth Rituals in «Studien zu den Boğazköy-Texten» StBo, Heft 29; S. 1-7; Alemannische Wikipedia «Appu», 15.01.2016
- Volkert Haas, die hethitische Literatur, S. 195f. Vgl. Elisabeth Rieken, Übersetzung CTH 360, Anm. 5:His [ ... ] of silver, gold, and lapis was raked up like the entire chaff of a th[reshing flo]or. (CHD P 89b).
- Elisabeth Rieken, Einführung in die hethitische Sprache und Schrift, S. 54; dUTU-uš = DUTU Šsamē «Sonnengott des Himmels» aus Johann Tischler, Hethitisches Handwörterbuch, S. 295. Vgl. dazu Kap. 2.1, wo Autoren DUTU ausdrücklich auf die Sonnengöttin von Arinna beziehen.
- Übersetzter Text CTH 360 von Elisabeth Rieken in www.hethport.uni-wuerzburg.de; V. 56 von Volkert Haas, «die hethitische Literatur», S. 196 und «Einführung in die hethitische Sprache und Schrift», S. 53f
- Volkert Haas, «die hethitische Literatur», S. 197
- Als Beispiele vgl. in meinen Texten vorkommenden Beispiele, etwa «MUNUSMEŠ arkammiyaleš» wird auf Deutsch mit «Musiker» übersetzt, obwohl MUNUSMEŠ/Frauen eindeutig «Musikerinnen» meint (Vgl. Patriarchat 01). «Pinu»wird mit «Sohn, Kind» übersetzt, doch die Tochter des Meeresgottes heisst Ḫatepinu (V. Haas, Literatur, S. 116), oder Mezulla, die Tochter der Sonnengöttin von Arinna wird auch Palatappinu genannt.
- Elisabeth Rieken, «Einführung in die hethitische Sprache und Schrift», S. 47
- Johannes Friedrich, «Kurzgefasstes Hethitisches Wörterbuch», S. 292/S. 193
- Elisabeth Rieken, «Einführung in die hethitische Sprache und Schrift», S. 29
- Volkert Haas, «Materia Magica et Medica Hethitica», Band 1, S. 4
- Volkert Haas, «Materia Magica et Medica Hethitica», Band 1, S. 40.16
- Übersetzter Text CTH 360 von Elisabeth Rieken in www.hethport.uni-wuerzburg.de; V. 56 von Volkert Haas, «die hethitische Literatur», S. 196 und «Einführung in die hethitische Sprache und Schrift», S. 53f
- Volkert Haas, «Materia Magica et Medica Hethitica», Band 1, S. 4
- Gary M. Beckman, «Hittite Birth Rituals», p. 35 in StBoT 29
- Par. 24, V. 161: paiddu=wa=šm[aš]=at dIŠTAR-iš URUninuwaš MUNUS.LUGAL-aš ḫannāu
- Vgl. meine Interpretation zu «das Patriarchat/Telipinu»
- GAL-iš-za dUTU-uš EZEN4-an i-e-et nu-za 1 LI-IM DINGIRMEŠ ḫal-za-i-iš e-te-er (V. 42)
- Erinnert an das aktuelle (2021) amerikanische Militär, das fluchtartig Afghanistan verlassen musste, nachdem sie Gelder in Milliardenhöhe ins Land gepumpt hatte die teuerstes Kriegsmaterial zurückliessen und all die Afghanenw/m, die ihnen und den Europäern während 20 Jahren gedient hatten, im Stich lassen. Gleichzeitig wurde in der schweizerischen Tagesschau nach Spenden für die arme Bevölkerung in Afghanistan aufgerufen. – Wo sind denn all die Milliarden Gelder hin?
- Volkert Haas, «die hethitische Literatur», S. 153ff.
Text und Design: Esther Keller-Stocker, Schweiz, 2019, letzte Revision: 04.11.2021