'Symbole der Wandlung'

von C. G. Jung, kommentiert von Esther Keller-Stocker

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Mein Vorwort

Dies ist die zweite Version meines Kommentars zu «Symbole der Wandlung» von C. G. Jung.

In der ersten Version orientierte ich mich an dem, was C. G. Jung über die Schrift von Miss Miller geschrieben hatte. Doch seine Interpretation geht an ihr vorbei. Schon die Voraussetzung, dass das nächtliche Singen eines Marineoffiziers auf Deck bei ihr zur Verdrängung erotischer Sehnsüchte geführt und sich daraus eine mögliche Schizophrenie entwickelt habe, ist fraglich. – Denn, solche Situationen kommen doch überall vor. Hätte sie mit dem Marineoffizier ins Bett hüpfen sollen, falls er nicht wollte mit Gewalt?

Das eigentliche Problem dieses Buches ist aber seine Einschätzung von Mann und Frau: konkret versteht er unter Mann den Priester, oder eher noch den Arzt, im allgemeinen den «höheren Vater» und dieser ist dann das «Mass der Dinge». Demgegenüber ist Frau eine minderwertige Grösse, die im Grunde nichts zu sagen hat. Ein Hinweis für dieses sein Verständnis ist in seiner Biographie zu finden: Mitte Dreissig begegnete er in der Totenwelt, im Unbewussten die Gestalten Elias und Salome. Während er Elias, dem grossen Propheten folgte, nahm er Abstand von Salome, der er nicht traute. Blind ist sie, «weil sie den Sinn der Dinge nicht sieht». In der Mythologie ist der «Blinde» aber ein grosser Weiser– aber eben als Mann.

Eigentlich wollte ich meinen Kommentar zu «Symbole der Wandlung» in Etappen schreiben, jedes Jahr ein Kapitel. Denn daneben habe ich noch andere, höchst interessante Themen, die mich in Beschlag nehmen. Als ich nun begann, das Kapitel «Die Entstehung des Heros» zu bearbeiten, war der Inhalt so verwirrlich. In der Vorlage, die von Miss Miller stammt, will sie eine Szene beschreiben und weist darauf hin, dass Phantasie begabte Menschen ihre Geschichte noch nach Belieben ausschmücken können. Dann folgt eine nächtliche Szene, in der sie «den Herrn» empfangen will, und jemand kommt als Sphinx verkleidet in ägyptischer Aufmachung. Was dann konkret passiert, schreibt sie nicht, stattdessen erzählt sie von einem Azteken, der auf eine Frau wartet, die noch nicht geboren ist, er wartet vermutlich auf sie. C. G. Jung steht da auch vor einem Rätsel und interpretiert dann frei nach höherer Väter-Art etwas vom negativen Aspekt der Grossen Mutter. Da muss ich mich fragen: wo kommt jetzt die her? Auch der Ödipus aus ferner Zeit musste wieder einmal für die Interpretation herhalten, um dann auf sein Lieblingsthema zu kommen: grosse Persönlichkeiten wie Petrus, der durch den Hahn zur Lichtgestalt wurde – Ich fass es nicht! Das liegt wohl an meinem weiblichen IQ! Doch ich will begreifen, hartnäckig, stur – wie sich das gehört für einen minderwertigen Animus! Und so fing ich diesen Sommer nochmals ganz von vorne an mit der 2. Version – vielleicht gibt es dann noch eine dritte Version! - Zuerst lasse ich jetzt Miss Miller zu Wort kommen: von Kaviar essen und Ekel ist da die Rede, von «gewissen Familienmitgliedern»! – Was geht da vor? Ist es nicht C. G. Jung, der Essen, Mund mit Sexualität in Verbindung bringt? – Kaviar, die kleinen schwarzen Kügelchen aus dem Leib der Stör, einem Fisch. Fisch! Bei C. G. Jung eindeutig ein phallisches Symbol. – Sie empfindet Ekel, nur für 1-2 Sekunden, um im nächsten Satz zu schreiben, dass er länger andauert. – Da will sie doch etwas sagen und getraut sich nicht. Als Phantasie begabter Mensch drückt sie sich in Metaphern aus. Und was macht C. G. Jung? – Was sie sagt, ist eigentlich nicht wichtig. Als Arzt entscheidet er, was er für ein Mädchen als wichtig zu erachten ist. Doch seine Ahnungen sind legendär und funken in diesem Buch immer wieder dazwischen. Und so wundert es nicht, dass er im ersten Kapitel, im ersten Satz von Inzest spricht. Aber nicht in Verbindung zu Miss Miller sondern als Antwort auf die Theorie von Sigmund Freud. Das Paradebeispiel ist da der Ödipuskomplex, Inzest zwischen zwei erwachsenen Personen, Inzest zwischen Mutter und Sohn, die sich nicht kennen, bei den alten Griechen, in einer fernen Vergangenheit! – Was hat das mit Miss Miller zu tun? Das frage ich mich im Laufe des Buches immer wieder.

Meine Aufgabe sehe ich darin, zu schauen, was Miss Miller sagt, und wie C. G. Jung auf ihre Schriften reagiert. Was mir dabei auffällt, ist, dass es im Buch eigentlich nicht um den negativen Aspekt der Grossen Mutter geht, sondern der negativen, zerstörerischen Aspekt des Grossen Vaters. Auch dies will ich belegen, mythologisch, historisch. – Aber das ist eine Dimension, die so gar nicht zur Ideologie C. G. Jungs passt.

1. Einleitung

1.1. Vorworte

C. G. Jung stellt im Buch «Symbole der Wandlung» seine Theorie vom menschlichen Bewusstsein und dessen Beziehung zum Unbewussten dar. Als Grundlage diente ihm die Schrift einer jungen Amerikanerin, die er «Frank Miller» nennt. Sie wurde wegen einer schizophrenen Störung behandelt. C. G. Jung übernahm ihren Text aus einer psychiatrischen Fachzeitschrift, die sein Freund Théodor Flournoy im Jahr 1906 veröffentlicht hatte (S. 9). Miss Miller selber hat er nie persönlich gekannt. Ihre Schrift enthalten neben persönlichen Notizen viel Phantasiematerial, in denen C. G. Jung Mythologeme erkennt, die in ähnlicher Form auf der ganzen Welt vorkommen. Dabei stellt er fest,

dass die schöpferische Phantasie auch über den vergessenen und längst überwucherten primitiven Geist verfügt mit seinen eigentümlichen Bildern, die sich in den Mythologien von allen Zeiten und Völkern offenbaren. Die Gesamtheit dieser Bilder formiert das kollektive Unbewusste, welches in potentia jedem Individuum durch Vererbung mitgegeben ist. Es ist das psychische Korrelat der menschlichen Gehirndifferenzierung (S. 18).

Er bemerkt dazu, dass der Verlauf der Geschichte häufig durch irrationale Faktoren bestimmt war und weniger durch rationale Entscheidungen (S. 16). Die Psyche ist ein nicht unveränderliches Gegebenes, sondern ein Produkt ihrer fortschreitenden Geschichte.

Im Vorwort zur vierten Auflage, die er siebenunddreissig Jahre nach der ersten Ausgabe in Angriff nahm, erzählt er rückblickend, wie ihn die Enge der damaligen Psychiatrie gestört hatte. Die damaligen Psychiater reduzierten psychische Erkrankungen auf den jeweiligen Patienten und rationalisierten sie. Er selber erkannte, dass die Seele Jahrmillionen alt ist und allen Menschen gleichermassen zur Verfügung steht. Er vergleicht die Psyche mit einem unterirdischen Wurzelgeflecht, ohne das der Einzelne nicht existieren kann (S. 13).

Die erste Fassung seines Buches kam 1911 heraus, als die Freundschaft mit Sigmund Freud in die Brüche ging, wie C. G. Jung in «Erinnerungen, Träume, Gedanken» ausführlich schilderte. So erlebten Sigmund Freud und C. G. Jung 1909 eine intensive Zeit miteinander. Beide wurden von der Clark University (Worcester, Mass) eingeladen, um Vorträge zu halten. Dort analysierten sie sich gegenseitig 7 Wochen lang ihre Träume. Da merkte C. G. Jung schnell, dass ihre Ansichten über Psychoanalyse sehr verschieden waren. In dieser Zeit träumte C. G. Jung von einem Haus, das sich als sein eigenes herausstellte. Im oberen Stock befand sich eine etwas altmodische Wohnung, in der er offensichtlich lebte, im Erdgeschoss ein Wohnraum aus dem 15./16. Jahrhundert, und der Keller erinnerte ihn an römische Zeiten. Da entdeckte er im Boden eine Falltür, die Treppe darunter führte ihn hinunter in eine Höhle, wo Knochen und zwei Schädel herumlagen. Sigmund Freud interessierte sich nur für die zwei Schädel, in denen er geheime Todeswünsche von C. G. Jung sah. C. G. Jung liess ihn im Glauben, interpretierte das ganze Haus aber als «eine Art Bild der Psyche» (Erinnerungen, S. 160-164):

Im Erdgeschoss begann bereits das Unbewusste. Je tiefer ich kam, desto fremder und dunkler wurde es. In der Höhle entdeckte ich Überreste einer primitiven Kultur, d.h. die Welt des primitiven Menschen in mir, welche vom Bewusstsein kaum mehr erreicht oder erhellt werden kann. (S. 164)

Er war da Mitte dreissig, eine Zeit, in der die zweite Lebenshälfte anfängt und sich das Leben häufig neu ausrichtet. Da machte G. Jung sich daran, seinen Mythos, sein unbewusstes Wurzelgeflecht kennenzulernen:

Ich musste doch wissen, welcher unbewusste und vorbewusste Mythus mich gestaltete, das heisst aus was für einem Rhizom ich abstammte. Dieser Entschluss führte mich zu jenen jahrelangen Untersuchungen über die durch unbewusste Vorgänge hervorgebrachten subjekiven Inhalte und zur Ausarbeitung jener Methoden, welche die praktische Erforschung der Manifestationen des Unbewussten teils ermöglichen, teils unterstützen (S. 14).

Da fielen ihm auch die Schriften von Miss Miller in die Hände. Sie dienten ihm als Vorlage zum Buch «Symbole der Wandlung». Im Buch wollte er

nur einen einigermassen ausführlichen Kommentar zu einer ‘praktischen’ Analyse, die ein schizophrenes Prodromalstadium betrifft, darstellen (S. 14).

Und so trägt er in diesem Buch viel schriftliches Material zusammen. Es sind Texte und Bilder aus verschiedenen Jahrhunderten und Kulturkreisen. Dafür erhält er überaus lobende Worte und Schulterklopfen von seinen Kollegen, denn das Buch war ein Durchbruch in der Psychiatrie, ein Meisterwerk! Doch mich wundert, weshalb er den Text einer jungen Frau nimmt, um seine Psychologie darzustellen. Denn im Buch wird schnell klar, dass ihn die Psyche von Miss Miller gar nicht interessiert, sondern es geht ihm um seinen Mythos, um sein eigenes ‘Wurzelgeflecht’, in dem sich natürlich auch seine männlichen Kollegen wiederfinden. Und so klafft ein immer grösserer Graben zwischen den Aussagen von Miss Miller und der Interpretation von C. G. Jung.

Es ist ja nicht so, als ob C. G. Jung Frauen nicht verstehen würde. In seiner Biographie «Erinnerungen, Träume, Gedanken» zeichnet er von sich einen feinfühligen Psychiater, ernsthaft bemüht, die Nöten seiner Patienten und Patientinnen zu verstehen. Dies zeigt er etwa bei einer 18-jährigen Jüdin, die nach einer abgebrochenen Analyse zu ihm in die Praxis kam. Zuvor träumte C. G. Jung von einem unbekannten Mädchen, die ihm ihr Problem schilderte. Doch im Traum verstand er kein Wort! Die junge Frau, die dann in seiner Praxis sass, litt an einer schweren Angstneurose:

Ich begann mit der Anamnese, konnte aber nichts Besonderes entdecken. Sie war eine angepasste westliche Jüdin, aufgeklärt bis in die Knochen. Zuerst konnte ich ihren Fall nicht verstehen. Plötzlich fiel mir mein Traum ein, und ich dachte: Herrgott, das ist ja diese kleine Person.

Er fragte sie, «wie ich das in solchen Fällen zu tun pflege» nach dem Grossvater.

Da sah ich, wie sie einen kurzen Augenblick lang die Augen schloss und wusste sofort:
hier liegt es!

Es stellte sich heraus, dass ihr Grossvater ein Rabbi war, ein Zaddiq (Gerechter), also ein Heiliger. C. G. Jung wusste nun Bescheid und sagte zu ihr:

Ihr Grossvater war ein Zaddik. Ihr Vater ist dem jüdischen Glauben abtrünnig geworden. Er hat das Geheimnis verraten und Gott vergessen. Und Sie haben ihre Neurose, weil Sie an der Furcht Gottes leiden!

Darauf hatte C. G. Jung wieder einen Traum: An einem Empfang war auch die junge Frau anwesend. Als sich die Gäste verabschiedeten, regnete es in Strömen, und das Mädchen bat ihn um einen Regenschirm, den er fand und umständlich öffnete. Als er ihr den Schirm überreichen wollte, fiel er auf die Knie, wie vor einer Gottheit! Dazu kommentiert er:

Der Traum hatte mir gezeigt, dass sie nicht nur eine oberflächliche Person war, sondern dass dahinter eine Heilige stand. Aber sie hatte keine mythologische Vorstellungen, und darum fand das Wesentliche in ihr keinen Ausdruck. Alle ihre Intentionen gingen auf in Flirt, Kleider und Sexualität, weil sie gar nichts anderes wusste. (Erinnerungen, S. 144f.)

C. G. Jung behandelt die junge Miss Miller ganz anders. Zwar lag ihm nur ihre Schrift vor und er betonte, dass er hier nicht eine Analyse vorführen will, aber es ist doch auffällig, dass er das Problem von Miss Miller scheinbar gar nicht wahrnimmt, wohl auch nicht wahrnehmen will. Bemerkenswert ist auch, dass ihm ihre Schrift jahrzehnte lang begleitet hatte, - während seiner ganzen Berufszeit als Psychiater.

1.2. Was schreibt Miss Miller?

Der Text von Miss Miller ist im Anhang des Buches (S. 581-593) auf Deutsch abgedruckt. Sie beginnt mit der Darstellung eines ihr eigenen Phänomens, ihrer starken Suggestionskraft, die sie ermöglichte, die Gefühle anderer als ihre eigenen wahrzunehmen. Dazu bringt sie drei Beispiele und schreibt:

Erstes Beispiel: Ich habe leidenschaftlich gerne Kaviar, dessen Geruch und Geschmack hingegen gewissen Mitgliedern meiner Familie äusserst zuwider sind. Wenn nun eines von ihnen im Moment, da ich zu essen anfange, seinem («begins to express her disgust») Ekel Ausdruck gibt, drängt sich mir dieser Ekel unverzüglich so eindeutig auf, dass ich einige Augenblicke lang einen absoluten Widerwillen für Geruch und Geschmack dieser Speise empfinde (S. 581).

Welche «Mitglieder der Familie» da gemeint sind, die angesichts von der «Kaviar essenden Miss Miller» Ekel empfinden, schreibt sie nicht. Allerdings steht auf Englisch nicht «seinem Ekel», sondern «her disgust»; es ist von einer Frau die Rede.

Im zweiten Beispiel erwähnt Miss Miller, dass sie gewisse Parfüms wegen deren Aufdringlichkeit überhaupt nicht mochte. Aber wenn «eine Dame» ihr ein solches Parfüm anpreist und sie daran riechen lässt, dann hat Miss Miller für ein, zwei Sekunden dasselbe wohlwollende Gefühl für diese Essenz wie die Dame. Dann betont Miss Miller, dass es ihr leichter fällt, angenehme Suggestionen abzuwehren als die negativen. Man fragt sich jetzt schon, was diese Erläuterungen sollen: Sie tönt etwas an, ohne es wirklich zu sagen. Dann fährt sie mit dem dritten Beispiel fort: Wenn sie mit grossen Interesse ein Buch lese oder ein Theaterstück sehe,

….(beispielsweise in Vorstellungen von Sarah Bernhardt, der (Eleonore) Duse oder von (George) Irving). Die Illusion wird bei gewissen aufwühlenden Szenen so vollständig, dass ich etwa im «Cyrano», wie Christian getötet wird und Sarah Bernhardt sich über ihn stürzt, um das Blut seiner Wunde zu stillen, einen echten und stechenden Stoss in meiner eigenen Brust verspürt habe, genau da, wo Christian den Stoss empfangen haben soll (S. 582).

Cyrano (de Bergerac) war der hässliche Romanheld, der sich in die junge Roxane verliebte und ihr im Militär Liebesbriefe schrieb, aber nicht in seinem Namen, sondern er liess sie ihr durch ihren Mann Christian zukommen. Dieser starb an der Front in den Armen seiner herbei eilenden Roxane.

Miss Miller erwähnt zunächst die drei SchauspielerInnen, die wohl die Hauptrollen des Stücks gespielt hatten. Dann die Schlussszene, wo sich Roxane über den tödlich Verletzten beugt. Aber Miss Miller schreibt nicht Roxane, sondern nennt die Schauspielerin, schon um zu zeigen, dass ihr die Illusion bewusst war, dass es sich nur um «Theater» handelt. Schaut man sich die von ihr beschriebene Konstellation an, sieht das wie folgt aus

Miss Miller Sarah Bernhardt
Christian
(Eleonore) Duse(George) Irving

Da spiegelt sich ein uraltes Mythologem, wie es etwa bei den «Frauen am Grab Jesu» vorkommt. Ein weiblicher Mythos, und hier wie bei den «Frauen am Grab» ist das Männliche eingebunden. Doch C. G. Jung ist Christian wichtig, mit deren Wunde sich Miss Miller identifiziert. Und somit wird der Mythos patriarchalisch gedeutet.

Die Konstellation, die Miss Miller hier entworfen hat, ist ein Symbol der Ganzheit, ein festes Raster inmitten des Chaos. Denn was mich an den ersten zwei Beispielen irritiert, ist der Kaviar, den sie so gerne mag, deren Geruch und Geschmack gewissen ‘Familienmitgliedern’ aber Ekel erregten. Wie C. G. Jung später im Buch zeigt, kann Essen auch eine Metapher für den Sexualakt sein. Die Situation sucht sie im zweiten Beispiel zu neutralisieren, indem sie von einer 'Dame' spricht, die wohlriechendes Parfüm anpreist? Hier geht es ebenfalls um ‘Geruch’. - Wer ist die Dame? In welche Beziehung steht sie zu Miss Miller und zu den im 1. Beispiel erwähnten 'Familienmitgliedern'? – Das alles schreibt sie nicht. Stattdessen fährt sie fort mit dem dritten Beispiel, da häufen sich die Namen, aber nicht von Familienangehörigen, sondern von berühmten SchauspielerInnen. Sie sind auf der Theaterbühne der Miss Miller nahe, aber weit weg von der Familie. Und dann die rührende Szene um den Christian, um den Sarah Bernhardt stellvertretend für sie trauert. Dabei betont Miss Miller eifrig «Alles ist nur Theater! Illusion!» – Im vierten Beispiel zeigt man der Miss Miller ein Photo von einem Dampfer auf hoher See. Das Bild erinnert Miss Miller intensiv an eine Atlantiküberfahrt, die sie so genossen hatte, dass sie die Wogen, den Wind und das Maschinenöl wieder erlebte. Im 5. Beispiel legte sie sich im Badezimmer ein Tuch in konischer Form über die Haare. Da fühlte sie sich als ägyptische Statue mit Insignien und starren Gliedmassen auf einem Sockel stehend:

Es war grossartig , und ich empfand mit Bedauern, wie dieser Eindruck schwand, so wie ein Regenbogen sich auflöst; und ebenfalls wie ein Regenbogen wiederholte er sich abgeschwächt, bevor er gänzlich verging (S. 582).

Auch am Ende ihrer Schrift ist von einer ägyptischen Statue die Rede: Da sieht sie in der Dunkelheit mitten in der Nacht Lichter und Funken wie durch ein Kaleidoskop, und plötzlich taucht der Kopf einer Sphinx in «ägyptischer Aufmachung» auf. Was dann passierte, schreibt sie nicht, stattdessen entwirft sie die Geschichte vom edlen Aztekenhäuptling, der einsam stirbt. Vergleicht man die beiden Notizen, so fällt die Ähnlichkeit auf:

Am Anfang ihrer Schrift: Kaviar – Familienmitglieder - (Sex ?) – sterbender Geliebter – ägyptische Statue – Regenbogen
Am Schluss ihrer Schrift: Licht (Kaleidoskop) – Kopf einer Sphinx in ägyptischer Aufmachung – Eltern rufen - (Sex ?) - sterbender Geliebter

Was immer da passiert, es ist ihr ureigenstes Problem: Inzest.

1.3. C. G. Jung über Inzestphantasien

C. G. Jung erwähnt nie die Möglichkeit eines Inzests bei Miss Miller. Er ist meines Erachtens der blinde Fleck in seinem Buch. Das heisst aber nicht, dass Inzest darin keine Rolle spielt, im Gegenteil, er ist zentrales Thema, allerdings als Abhandlung seiner Theorie über die Libido anhand von antiken Mythen und australischen Riten, und zwar immer aus der Optik des Mannes im Verhältnis zu seiner Mutter, vom ersten Satz in seinem Buche an. Erwähnt Miss Miller als Erstes die Szene vom «Kaviar essen», die man als Analogiehandlung1 zum konkret stattgefundenen Inzest sehen darf, reagiert C.G. Jung von Anfang an mit dem Ödipuskomplex, wie ihn Sigmund Freud in seinem Buch Traumdeutung beschrieben hatte. Er verschiebt das Inzest-Problem von Miss Miller und das ihrer 'Familienmitglieder' also in die Welt der Antike:

…. die Tatsache in Erinnerung ruft, dass ein individueller Konflikt, nämlich die Inzestphanatsie, eine wesentliche Wurzel des gewaltigen antiken Dramenstoffes, der Ödipus-Sage, ist.

Er kommt dann - wie sie - auf das Theater zu sprechen; aber nicht auf das Theater in New York um 1900 n. Chr., sondern auf das griechische Theater um 400 v. Chr.:

Eben noch waren wir beschäftigt mit den verwirrenden Eindrücken des unendlich Variablen der Individualseele, als plötzlich sich der Blick auftat auf jene einfache Grösse der Ödipustragödie, diese nie erlöschende Leuchte des griechischen Theaters (S. 21f.)

Dass er sehr wohl um die Problematik von Miss Miller weiss oder vielleicht eher wissen könnte, zeigt seine Bemerkung, dass die begehrten Frauen in den griechischen Tragödien für junge Männer eigentlich zu alt und zu wenig attraktiv seien, aber im Unbewussten kommt

der ‘Mutter’ eine ebenso verzehrende wie unbewusste Leidenschaft des Sohnes zu, die vielleicht sein ganzes Leben untergräbt und tragisch verwirrt, so dass die Grösse des Ödipusschicksals als nicht um ein Jota übertrieben erscheint (S. 22).

Persephone

Statue der Isis-Persephone mit Sistrum. Tempel der ägyptischen Götter, Gortyn. Römerzeit ( 180-190 n.Chr.)

Als Beispiel dieser Mütter nennt er Persephone und Iokaste. - Wieso Persephone? Sie ist keine Mutter, sondern gehört in die Gruppe der jugendlichen sterbenden und auferstehenden Göttern. Und vor allem ist sie das Opfer einer Vergewaltigung: So hatte Hades sie in die Unterwelt entführt und sie dort vergewaltigt. Hades war der Bruder Zeus, und Zeus der Vater von Persephone. Und was machte ihr Vater? Er übergab sie dem Hades zur Ehefrau. Der zweite Name, den C. G. Jung erwähnt, Iokaste, ist die Mutter von Ödipus. Da Ödipus nach der Geburt ausgesetzt worden war, wussten beide nichts von ihrer Verwandtschaft, im Gegensatz zu Miss Miller, die sehr wohl ihre 'Familienmitglieder' kannte, aber nicht im Detail erwähnen wollte. - Um seine These von den ‘Müttern’ abzusichern, verweist C.G. Jung noch auf den Sohn von Ninon de Lenclos (16. Jh.), der sich in die 60-jährige Ninon verliebt hatte, und sich erschoss, als er erfuhr, dass sie seine Mutter war. Dieses Beispiel passt zu Iokaste, aber nicht zu Persephone.

C. G. Jung ist nicht bloss der Denker, der Kopfmensch, denn seine Intuition ist phänomenal1. Der Hinweis der ‘Persephone’ scheint ihm aus dem Unbewussten zugeströmt zu sein, um ihn auf den Inzest «Vater-Tochter» hinzuweisen. Doch seine Abneigung zu diesem Thema ist zu gross, und so behandelt er ‘Inzest’ stets von einer ‘neutralen’ Ebene, also patriarchalisch als ‘Mutter-Sohn’-Problem. In der Einleitung weist er noch allgemein darauf hin, dass Inzest zu den menschlichen Elementarkonflikten gehören, «die jenseits von Zeit und Raum stehen» (S. 22).

1.4. Zwei Arten des Denkens

C. G. Jung unterscheidet zwei Arten von Denken, das «objektive Denken» und das «subjektive Denken».

1.4.1. Subjektives Denken

Er beginnt mit «Subjektives Denken»: Dieses Denken bedarf keiner intellektuellen Anstrengung, fällt uns einfach zu und äussert sich vor allem im Traum und in den Phantasien. Der Traum weist uns auf sinnvolle und bedeutsame Inhalte aus dem Unbewussten hin:

Der Traum entsteht aus einem uns nicht bekannten Teil der Seele und beschäftigt sich mit der Vorbereitung des kommenden Tages und dessen Ereignissen (S. 25)2.

Es ist Gedankenmaterial bestehend aus Bildern, eine symbolische Sprache, die seit Jahrtausenden von Traumdeutern interpretiert werden. Aus der Bibel sind uns etwa Joseph in Ägypten (I. Mose 40) bekannt, oder Daniel in Babylon (Dan. 4)3.

Mit Verweis auf Sigmund Freud kommt C. G. Jung zu Träumen mit sexuellem Inhalt zu sprechen:

Die Sprache hat, wie bekannt, zahlreiche erotische Metaphern, welche auf Inhalte angewendet werden, die nichts mit Sexualität zu tun haben; und umgekehrt bedeutet die Sexualsymbolik keineswegs, dass das sie anwendende Interesse erotischer Natur wäre (S. 26).

Er betont, dass Sexualität ein starker Trieb ist, aber bei weitem nicht der einzige. Da ist etwa «der Instinkt der Selbsterhaltung, ebenfalls Quelle vieler Emotionen» (S. 26). Doch er bleibt bei der sexuellen Symbolik in den Träumen, die erotische Konflikte aufzeigen - aber nicht von Männern, wie man es vom vorigen Kapitel erwarten dürfte, sondern von Frauen.

Dies wird besonders deutlich am Motiv der Gewalttat. So kommt das Motiv vom Einbrecher, Räuber, Mörder und Lustmörder häufig in erotischen Träumen von Frauen vor.

Jetzt kommt er so richtig in Fahrt und schreibt:

Das Thema hat unzählige Varianten. Die Mordwaffe ist Lanze, Schwert, Dolch, Revolver, Gewehr, Kanone, Hydrant, Giesskanne, und die Gewalttat ist ein Einbruch, eine Verfolgung, ein Diebstahl, oder es ist jemand im Schrank oder unter dem Bette verborgen. Oder die Gefahr wird durch wilde Tiere veranschaulicht, zum Beispiel durch ein Pferd, das die Träumerin zu Boden wirft und ihr mit dem Hinterbein in den Leib stösst, durch Löwen, Tiger, Elefanten mit bedrohlichem Rüssel und schliesslich durch Schlangen in endloser Anwandlung (S. 26f.)

Sinnlichkeit

Und verweist auf Kleopatra, die durch den Biss einer Schlange getötet wurde, oder auf das Bild «Laster» von Franz von Stuck, das die tödliche Bedrohung von Sexualität ausdrückt. Zuletzt nennt er «Erstes Liebeslied eines Mädchen» von Mörike:


Was im Netze? Schau einmal! Aber ich bin bange;
Greif’ ich einen süssen Aal? Greif’ ich eine Schlange? … (S. 27).

Hat er da nicht etwas vergessen? – Den Stör der Kaviar essenden Miss Miller? – Davon kein Wort, obwohl ihr Text vor ihm lag. Nein, statt sie erwähnt er Kleopatra, die von ihrer Schlange gebissen wurde. Doch bei Kleopatra geht es nicht um sexuelle Konflikte, sondern um politisch motivierte Tatsachen. Mit dem Biss wollte sie sich Octavius Augustus entziehen, der an der Annexion Ägyptens interessiert war. Dies korrigiert er in der Erwähnung des Bildes «die Sinnlichkeit» (1889) von Franz von Stuck, Darstellung dämonischer Sexualität.

Ohne Miss Miller zu erwähnen, zeigt er hier ihre Problematik auf:

(Inzest) – sexuelle Lust – (Ekel) – Bedrohung – Tod

Es ist, als ob auch hier die Ahnung ihm den Weg zeigt, den er zu gehen sich weigert! So definiert er hier wieder ‘ganz allgemein’ weibliche sexuelle Konflikte mit bekannten Symbolen, kommt dann allmählich auf phallische Tierbilder wie ‘Schlange’, ‘Fisch’ respektive ‘Aal’ zu sprechen. Das kommt recht nahe an Stör und Kaviar heran. Doch der Kaviar von Miss Miller ist nicht phallisch. - Handelt es sich womöglich um Oralsex? Wie beim Präsidenten Clinton? – Der Ekel, den Miss Miller für einen Moment befiel, weist darauf hin.

Dass C. G. Jung sie als Opfer eines Inzests voraussetzt, wird in einem späteren Kapitel klar, als er feststellte, dass sie eine Frau sei, und demnach bei ihr ein «männliches Monstrum» vorliegen müsse, nämlich der Vater (S. 229). Auch ist die Rückseite des gelben Umschlags vom Buch mit «Das Opfer» betitelt und dann heisst es weiter:

Wenn die Vision von Miss Miller das Problem des Opfers zum Gegenstand hat…
(Rückseite des gelben Umschlags)

Hier wird Miss Miller explizit als Opfer bezeichnet. Wer diesen Hinweis geschrieben hat, ist nicht angegeben. Im Buch jedenfalls ist nie von Inzest bei Miss Miller die Rede, noch von ihrer Opferrolle. Ihr Drama verbirgt sich in einer Sprachlosigkeit, die auch im Symbol des Fisches zum Ausdruck kommt, das C. G. Jung vom Dichter Mörike übernimmt.

1.4.2. Objektives Denken

Nun kommt er sachlich auf das objektive Denken zu sprechen: Das objektive Denken ist anstrengend und orientiert sich an den äusseren Begebenheiten, die der Mensch wahrnimmt und denkerisch verarbeitet, um so auf die entsprechende Situation zu reagieren. Dann überlegt er sich, wie das objektive Denken entstanden sein könnte und stellt sich vor, wie die Urmenschen sich in Gruppen mit Lauten unterhalten hatten. Ihre Laute hatten sie aus der Umwelt übernommen. So brüllte der Urmensch wie der Donner oder wie der Löwe, schnalzte mit der Zunge, turtelte mit seiner Angebeteten usw. - Der Urmensch ahmte Naturlauten nach, um sich bemerkbar zu machen und auf seine Umwelt zu reagieren. C. G. Jung untermauert seine These unter anderem mit einem Text von Anatole France. Dieser schreibt:

Und was ist Denken? Und wie denkt man? Wir denken in Wörtern; das allein ist sinnenhaft und führt zur Natur zurück. Man bedenke, ein Metaphysiker hat zur Erstellung des Weltsystems nur den perfektionierten Schrei der Affen und der Hunde.

Was er tiefsinnige Ergründung und transzendente Methode nennt, besteht darin, Stück um Stück, in willkürlicher Anordnung, die Laute aneinanderzureihen, die in den Urwäldern Hunger, Angst und Liebe hinausschreien und mit denen sich allmählich Sinngehalte verknüpfen, die man für abstrakt hält, wo doch nur die Verbindung erschlafft ist. – Man befürchte nicht, dass diese Folge gedämpfter, abgeschwächter kleiner Schreie, die ein philosophisches Werk ausmachen, uns zu viel Wissen über das Universum vermittle, sodass wir darin nicht mehr leben könnten (S. 31/S. 565).

Die Naturlaute entwickelten sich zu Sprachen und abstrakten Denkmodellen, die nach langer Entwicklung und Tradition zur heutigen Wissenschaft und Technik führten. C. G. Jung nennt dieses Denken objektiv, weil der Mensch sich mit diesem Denken in der Sprache ausdrückt, mit anderen kommuniziert und sich mit diesem Denken den Bedingungen der Aussenwelt stellt.

Das objektive Denken hat uns ungeahnte Erfolge gebracht, etwa in technischer Hinsicht. Es ist aber vor allem ein modernes Phänomen. Denn in der Antike herrschte das subjektive Denken vor. Anfänge von Naturwissenschaften gab es zwar, waren aber in mythischen Gedanken eingehüllt. Die Menschen beschäftigten sich mit Göttern und Dämonen. Die Natur hatte magische Wirkung auf den Menschen, die Haine, Meere, Flüsse, Berge waren voll von Geistern und Feen. Es ist ein Denken, das heute in Träumen und in der Kunst vorkommt.

Seeungeheuer Ketos

«Das Seeungeheuer Ketos» («Perseus befreit Andromeda») von Piero di Cosimos, um 1515

Es ist das geistige Training in den europäischen Schulen, die den Menschen von der numinosen Macht der Natur und den Geistern isoliert und das objektive Denken ermöglicht hat.

1.5. Gestalten aus dem Unbewussten

Wie dramatisch das subjektive Denken sein kann, deutet C. G. Jung hier kurz mit dem Traumdeuter Joseph in Ägypten an, der eine Hungersnot voraussagte und dem Pharao empfahl, riesige Vorräte anzulegen. Oder Daniel, der den Untergang des neubabylonischen Reiches prophezeite.

Schaut man sich die Biografie von C. G. Jung an, so ist sie zwischen 1913 und 1919 voll von Träumen, Visionen und Phantasien. So schildert er etwa ein Gesicht, das er 1913 hatte:

Im Oktober, als ich mich allein auf einer Reise befand, wurde ich plötzlich von einem Gesicht befallen: Ich sah eine ungeheure Flut, die alle nördlichen und tiefgelegenen Länder zwischen der Nordsee und den Alpen bedeckte. Die Flut reichte von England bis nach Russland und von den Küsten der Nordsee bis fast zu den Alpen. Als sie die Schweiz erreichte, sah ich, dass die Berge höher und höher wuchsen, wie um unser Land zu schützen. Eine schreckliche Katastrophe spielte sich ab. Ich sah die gewaltigen gelben Wogen, die schwimmenden Trümmer der Kulturwerke und den Tod von ungezählten Tausenden. Dann verwandelte sich das Meer in Blut.

Dieses Gesicht wiederholte sich nach zwei Wochen,

nur die Verwandlung in Blut war noch schrecklicher» (Erinnerungen, S. 179)

Diese Zeit erlebte C. G. Jung höchst intensiv, glaubte, er werde verrückt. Da begann er Steine zu sammeln und mit ihnen zu spielen, wie er es als 11-Jähriger begeistert getan hatte. Mit den Steinen baute er Häuser, eine Burg – ein Dorf mit einer Kirche. Für den Altar suchte er einen speziellen Stein. Zufällig fand er am Ufer des Zürichsees einen Glassplitter, der vom Wasser zu einer Pyramide (4 cm) geformt worden war. Den stellte er als Altar unter die Kuppel der Kirche.

Die Tätigkeit mit den Steinen löste einen Strom von Phantasien aus, die er mit der Zeit sorgfältig aufschrieb. Es waren Phantasien, die sich in «unbeholfener Sprache» an ihn wandten:

Meist in einer «gehobenen Sprache», denn sie entspricht dem Stil der Archetypen.
Die Archetypen reden pathetisch und sogar schwülstig.

C. G. Jung wollte mit dieser Konfrontation mit dem Unbewussten ein wissenschaftliches Experiment machen, doch mit der Zeit merkte er:

Es war ein Experiment, das mit mir angestellt wurde. (Erinnerungen, S. 181)

So träumte er etwa von einem Wilden, der ihn zu einem Berg begleitete. Da sah er Siegfried auf dem Grad des Berges im ersten Strahl der aufgehenden Sonne. Dieser fuhr in einem Wagen aus Totengebein in rasendem Tempo den Abhang hinunter. Als Siegfried um eine Ecke bog, schoss der Wilde auf ihn. Er stürzte zu Tode getroffen.

C. G. Jung kommentiert: Der Wilde war sein primitiver Schatten, Siegfried der bekannte Held, ein Ich-Ideal. Zu ihm passt das Sprichwort: «Wo ein Wille ist, ist ein Weg». Mit «Wille» ist der «Ich-Wille» gemeint. C. G. Jung begriff, dass dieses Ideal nicht mehr gilt, Siegfried musste sterben, denn die Identität mit dem Helden musste ein Ende haben und folgert daraus:

Es gibt Höheres, dem man sich unterwerfen muss, als der Ich-Wille.
(Erinnerungen, S. 184)

Um die Phantasien zu fassen, stellt er sich oft einen Abstieg vor. Bei einem Versuch landete er im Totenland, wo er zwei Gestalten traf, einen alten Mann mit weissem Bart und ein blindes Mädchen. Er beschloss, sie wie wirklichen Menschen zu begegnen:

Der Alte erklärte, er sei Elias, und das versetzte mir einen Schock.
Das Mädchen brachte mich fast noch mehr aus der Fassung,
denn sie nannte sich Salome! (Erinnerungen, S. 185)

Elias und Salomo sind biblische Gestalten. C. G. Jung geht aber nicht sonderlich auf ihre Bedeutung in der Bibel ein, sondern analysiert die Symbolik von «Alter Mann und junges Mädchen», die in der Weltgeschichte immer wieder vorkommt.

Salome ist eine Animafigur. Sie ist blind, weil sie den Sinn der Dinge nicht sieht.
Elias ist die Figur des alten weisen Propheten und stellt das erkennende Element dar,
Salome das erotische.

Sie sind die Verkörperung von Logos und Eros. Doch das ist C.G. Jung zu intellektuell und wartet auf die Verdeutlichung der unbewussten Hintergrundsvorgänge. Zu diesem Paar gesellte sich eine schwarze Schlange:

In der Mythologie ist die Schlange häufig Gegenspielerin des Helden. Es gibt zahlreiche Berichte über ihre Verwandtschaft. So heisst es z.B. der Held habe Schlangenaugen, oder er würde nach seinem Tode in eine Schlange verwandelt, ….

Zu den drei Figuren schreibt er, dass die schwarze Schlange ihm offensichtlich zugeneigt war und dann:

Ich hielt mich an Elias, weil er der vernünftigste von den dreien zu sein und über einen guten Verstand zu verfügen schien. Salome gegenüber war ich misstrauisch. Elias und ich führten ein längeres Gespräch, dessen Sinn ich aber nicht erfassen konnte.
(Erinnerungen, S. 185)

Aus der Figur Elias entwickelte sich dann Philemon:

Philemon war ein Heide und brachte einer ägyptisch-hellenistische Stimmung mit einer gnostischen Färbung herauf. (Erinnerungen, S. 186)

Philemon wurde der Guru, der Geistführer von C. G. Jung.

Die Gestalten, denen C. G. Jung in seiner Phantasie im Totenland getroffen war, erschienen ihm ein Jahr nach der ersten Ausgabe von «Symbole der Wandlung»4. Das heisst, die drei Gestalten prägten unbewusst das Buch. Sie waren das unbewusste Raster des Buches. So betont C. G. Jung, dass er sich an Elias hielt, weil er ihn als den Vernünftigsten der Drei hielt. Und doppelt nach: «Elias ist die Figur des alten weisen Propheten und stellt das erkennende Element dar». – Das ist Wertung! Entspricht der allgemeinen, der kollektiven Wertung, die im biblischen Elias einen grossen Propheten sieht! – Wie immer in solchen Fällen schaue ich mir den entsprechenden Text an: In I. Könige 18 etwa geht es um einen Wettstreit zwischen 450 Baalspropheten und Elija, welcher Gott das dargebotene Opfer von zwei Stieren auf dem Berge Karmel annimmt. Die Baalspropheten riefen und tanzten ihren Gott heran, doch dieser kam nicht. Dann war Elija dran. Er liess eine riesige Menge Wasser auf das Brandopfer giessen und rief Jahwe an, der kam dann auch schön brav, und verschlang die Bullen samt Altar und leckte das Wasser auf. Darauf gab Elija den Befehl.

Und Elija sprach zu ihnen: Ergreift die Propheten des Baal! Keiner von ihnen soll entrinnen! Und man ergriff sie, und Elija führte sie hinab an das Bachtal des Kischon, und dort schlachtete er sie (I. Kön. 18,40, Züricher Bibel)

In den Evangelien wird Elija als leidender Prophet geschildert. So soll Jesus zu den Schriftgelehrten gesagt haben:

Elija muss zuerst kommen? Er sagte zu ihnen: Ja, Elija kommt zuerst und stellt alles wieder her. Doch wie kann dann über den Menschensohn geschrieben stehen, er werde vieles erleiden und verworfen werden? Aber ich sage euch: Elija ist gekommen, und sie haben mit ihm gemacht, was sie wollten, wie über ihn geschrieben steht. (Mk 9,11-13)

Das Leiden des Elija nimmt Bezug auf den Propheten, als er vor dem Königspaar Ahab und Isebel in der Wüste floh und sich resigniert hinlegte:

Es ist genug, HERR, nimm nun mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Vorfahren. Dann legte er sich hin, und unter einem Ginsterstrauch schlief er ein. Aber plötzlich berührte ihn ein Bote und sprach zu ihm: Steh auf, iss! (I. Kön. 19,7).

Der Bote hatte ihm zu essen und zu trinken mitgebracht. Er befahl ihm dann zum Berge Horeb zu wandern. Nach vierzig Tagen und Nächten kam Elija zum Berge Horeb, wo er eine Höhle fand. Jahwe erschien ihm da als Flüstern eines sanften Windhauchs. Und was flüstert Gott in dieser so friedlichen Situation ihm ins Ohr:

Geh, kehre zurück auf deinen Weg in die Wüste, nach Damaskus, und geh und salbe Chasael zum König über Aram. Und Jehu, den Sohn des Nimschi, sollst du zum König salben über Israel, und Elischa, den Sohn des Schafat, aus Abel-Mechola, sollst du zum Propheten salben an deiner Statt. Und wer sich vor dem Schwert Chasaels retten kann, den wird Jehu töten, und wer sich vor dem Schwert Jehus retten kann, den wird Elischa töten. Siebentausend aber werde ich in Israel übrig lassen: alle, deren Knie sich nicht gebeugt haben vor dem Baal, und alle, deren Mund ihn nicht geküsst hat. (I. Kön. 19,15-18)

Terror pur! Mord und Totschlag, wo Bäche von Blut fliesst. - Es ist Inflation des kollektiven Unbewussten, ein rauschhaftes Erfasstsein, wie es C. G. Jung auch immer wieder erwähnt. Doch solchen Blutrausch kennen wir historisch fast ausschliesslich von Männern5, wie etwa Steven Pinker in seinem Buch «Gewalt»6 zeigt. – Und dann die Wertung eines solchen ‘Helden’, wie etwa in unserem Beispiel: Grosser Prophet, ein Weiser, «verfügt über einen ausserordentlichen Verstand!» Es ist eine patriarchale Wertung: Sie hebt den Mann in luftige Höhe, in die Idealwelt. – Was ist mit den Frauen? Ein schönes Beispiel ist Salome, von der C. G. Jung schreibt, sie sei blind, weil sie nichts begreift. – Diesen Satz kenne ich! – Aber trotz ihrer von ihm festgelegte Beschränktheit traut er ihr nicht! – Versteht sie vielleicht doch, aber unter dem patriarchalen Druck schweigt sie. Jedenfalls gelten sonst Blinde als besonders hellsichtig.

Diese Konstellation aus seiner Phantasiewelt zeigt sich auch im Buch «Symbole der Wandlung»: Als Miss Miller ihre Schrift verfasste, war sie ungefähr 20 Jahre alt, das Ende der Schrift verfasste sie vier Jahre später, wohnte da immer noch zu Hause. Sie war da also weder verheiratet noch hatte sie Kinder. C. G. Jung übernahm ihre Schrift, da war er Mitte dreissig. Während er immer älter wurde, bleibt Miss Miller in ihre Schrift immer ein junges Mädchen. Sie hat ein Problem – wohl mit dem Vater: Inzest. Sie schweigt darüber wohl aus Scham und Abhängigkeit, gibt sich locker und fröhlich. Doch ihre Todesphantasien verraten sie.

C. G. Jung schweigt auch. Ihr Problem handelt er professionell als allgemeines und uraltes Phänomen der Menschheit ab, mit Hilfe von Fachliteratur der gebildeten männlichen Elite seiner Zeit. Das zeigt sich auch in diesem Kapitel «Zwei Arten zu denken»: Anfangs des Kapitels weist er auf die beiden berühmten Traumdeuter in der Bibel, kommt dann in Anlehnung an Sigmund Freud auf sexuelle Konflikte von Frauen zu sprechen, die in den Träumen nachzuweisen sind, dann auf Kleopatra, die durch eine Schlangenbiss getötet wurde. Dies wissen wir aus der Geschichte. Geschichte wurde von Männern geschrieben und überliefert. Dann fährt er fort mit dem Hinweis auf ein Bild, das er «Laster» nennt; da ist zu sehen, wie ein Künstler, also ein Mann, sich dämonische Sinnlichkeit vorstellt: als nackte Frau und überdimensionierte Schlange. Und zu guter Letzt folgt ein Gedicht, wie sich ein Dichter, also ein Mann, die Sexualität eines jungen Mädchens ausdenkt.

Hinweise

  1. C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, S. 185ff.
  2. C. G. Jung, «Erinnerungen, Träume, Gedanken», S. 174ff.
  3. Ein Beispiel dazu: da träumte einem Mann von einem Sarg. Daneben stand ein himmlisches Wesen und sage: «Bitte, treten Sie ein!» Am anderen Morgen ging der Mann zu einer Verabredung in ein Hotel. Am Lift stand der Portier und sagte: «Bitte treten Sie ein!» Der Mann erschrak und ging die Treppe hoch. Der Lift stürzte ab.
  4. Damals hiess das Buch «Wandlung und Symbole der Libido» (Erinnerungen, S. 163)
  5. Abgesehen von wenigen ‘bloody Maries’. Salome verlangte den Kopf des Johannes dem Täufer
  6. Steven Pinker, Gewalt, eine neue Geschichte der Menschheit, 2018, 3. Auflage