2. Der Schöpfungsmythos
2.1. Vorgeschichte
Im ersten Satz in diesem Kapitel schreibt C. G. Jung:
Wir wissen aus mannigfacher Erfahrung, dass, wenn jemand eigene Phantasien oder seine Träume erzählt, es sich dabei sehr oft nicht nur um ein dringendes, sondern um das momentan peinlichste seiner intimen Probleme handelt. (S. 55)
Was sind das für Peinlichkeiten, die Miss Miller hier preisgibt? Etwa, weil sie sich mit dem sterbenden Christian identifiziert? – Ich denke eher ihr «genüssliches Kaviar Essen», das C. G. Jung aber nirgends erwähnt? – Statt darüber ein Wort zu verlieren, erwähnt er in einer Fussnote einen Traum von Nietzsche, den dieser bei einem Event seiner Tischnachbarin erzählte:
«Mir hat kürzlich geträumt, meine Hand, die vor mir auf dem Tische lag, bekam plötzlich eine gläserne, durchsichtige Haut; ich sah deutlich in ihr Gebein, in ihr Gewebe, in ihr Muskelspiel hinein. Mit einem Mal sah ich eine dicke Kröte auf meiner hand sitzen und verspürte zugleich den unwiderstehliche Zwang, das Tier zu verschlucken. Ich überwand meinen entsetzlichen Widerwillen und würgte sie hinunter». Die Frau lachte.
Zur Tischdame, die mit der Aussage von Nietzsche überfallen wurde,
schreibt C. G. Jung:
Man weiss, welche Krankheit Nietzsches Leben ein vorzeitiges Ende bereitet hat. Eben gerade das hatte er seiner Dame mitzuteilen. Ihr Lachen war wirlich ungereimt. (S. 55, Anm. 1)
Ein Mann würde doch genauso reagieren wie diese Frau. Aber weshalb erwähnt er ausgerechnet diesen Traum mit der Kröte, dessen durchsichtiges Glied Nietzsche in Schrecken und Ekel versetzt, und die er in seinem Körper aufnehmen musste:
.., dass mit seinem durchsichtigen Gliedern etwas Schreckliches und Ekelhaftes passiert sei, dass er auch ganz in seinen Körper habe aufnehmen müssen.
Miss Miller deutet mit «Kaviar essen» an, dass ihr ähnliches passiert ist. Ein Ereignis, das sie, im Gegensatz zu Nietzsche, zu verharmlosen sucht. So isst sie zwar «leidenschaftlich gerne Kaviar», doch gibt sie dann zu, dass es ihr Ekel bereitet. Auch ist das ‘Kaviar Essen’ kein Traum, sondern Realität.
Was macht C. G. Jung hier? – Erinnern wir uns an die Geisterfiguren Elias und Salome aus seiner Biographie «Erinnerungen, Träume, Gedanken», so sieht die Konstellation zwischen Miss Millers Kaviar essen zu Nietzsches Kröte schlucken wie folgt aus:
Elias: Grosser Prophet Gesprächspartner |
Salome: blind, Misstrauen |
Symbol | Interpretation |
⇓ | Miss MillerX X | Kaviar essenX X | InzestX |
F. Nietzsche: Grosser Philosoph |
⇓ | Kröte schlucken | Gläsernes Glied |
Tischdame lacht | nicht angemessen! |
Wie bereits in Teil 2 erwähnt, hält er sich an Elias, dem Weisen, während er der Salome misstraut, und sie nicht weiter beachtet. Diese Konstellation widerspiegelt sich hier im Traum von Nietzsche. C. G. Jung beachtet das Problem von Miss Miller nicht, kann es nur über das Beispiel des berühmten Philosophen wahrnehmen. Miss Miller (Salome) misstraut er und ist demzufolge blind für ihre Probleme – und das ist doch «die Peinlichkeit», die er am Anfang erwähnt hat.
Eigentlich hat C.G. Jung ein feines Gespür für die Situation anderer Menschen. So schreibt er etwa in seiner Biographie über einen ihm unbekannten Anwalt, der bei einem Hochzeitsessen ihm gegenüber sass:
Wir unterhielten uns angeregt über Kriminalpsychologie. Um ihm eine bestimmte Frage zu beantworten, dachte ich mir die Geschichte eines Falles aus, die ich mit vielen Details ausschmückte. Während ich noch sprach, merkte ich, dass der andere einen völlig veränderten Ausdruck bekam und eine merkwürdige Stille am Tisch entstand. (Erinnerungen S. 56)
Nach dem Essen warf ihm ein anderer Gast vor:
Wie kamen Sie bloss dazu, eine solche Indiskretion zu begehen?
C. G. Jung beteuerte, er habe die Geschichte nur ersonnen! Und stellte mit Schrecken fest, dass er sich nicht mehr an die Worte erinnern konnte. (Erinnerungen, S. 57)
Aber der Fall von Miss Miller war so ungeheuerlich, dass er, der Psychiater, diese Ungeheuerlichkeit verdrängte. In seinen Erläuterungen taucht sie aber wieder auf, er aber nie darauf eingeht. Statt die ersten Beispiele von Miss Miller zu erwähnen, fokussiert sich C. G. Jung hier auf Christian, angesichts dessen Sterben Miss Miller selber einen Stich im Herzen spürt, und schreibt allgemein zum Theater:
Der Genuss des Lustspiels oder der sich in Wonne auflösenden dramatischen Verwirklungen geschieht auf dem Wege der Identifikation eigener Komplexe mit dem Spiele, der Genuss der Tragödie vermöge des schauerlich wohltätigen Gefühls, das dem anderen passiert, was einem selber drohnt (S. 56)
Dann fasst er das Theaterstück «Cyrano de Bergerac» zusammen und schreibt zur Szene, als sich Cyrano der Roxane zu erkennen gibt:
Das tragische Intermezzo mit Christian spielt sich aber, wie wir gesehen haben, auf einem weit bedeutungsvolleren Hintergrund ab, nämlich der unverstandenen Liebe Cyranos zu Roxane. Die Identifikation mit Christian dürfte nur vorgeschoben sein. (S. 58)
Die Identifikation mit Christian hat also ein Nachspiel, eine unverstandene Liebe? – So viel ich sehe, geht er aber nirgends auf Miss Millers unverstandene Liebe ein.
Nach dem Stich, den Miss Miller im Theaterbesuch empfand, als Christian aus Cyrano de Bergerac sterbend niedersank, erwähnt Miss Miller als viertes Beispiel unvermittelt eine Atlantiküberfahrt, zu der wir noch zu sprechen kommen.
Im 5. Beispiel identifiziert sie sich mit einer ägyptischen Statue. Dazu C. G. Jung:
…, natürlich auf Grund einer nicht anerkannten Ähnlichkeit. Das heisst doch: Ich bin wie eine ägyptische Statue, als ebenso steif, hölzern, erhaben und «impassible», wofür ja der ägyptische Stil sprichwörtlich ist.
Weshalb identifiziert sich Miss Miller mit einer ägyptischen Statue? C. G. Jung gibt darauf keine Anwort. Die Lösung findet sich aber verdrängt in der Fussnote zum Nietzsches Traum. Da zitiert C. G. Jung Carl Albrecht Bernoulli:
… Man kam vielleicht auch dahinter, dass die tadellose Exaktheit in seiner Kleidung weniger auf ein harmloses Wohlgefallen an sich selbst zurückzuführen sei, als dass darin sich eine aus einem geheimen, quälenden Ekel entspringende Befleckungsfurcht äussere (S. 55, Anm. 1).
In ähnlicher Weise ist Miss Miller als ägyptische Statue mit «starre Gliedmassen» und «Insignien in der Hand» zu verstehen. Es ist ihre Reaktion auf den Ekel vor dem ‘Kaviar’ wie die tadellose Kleidung Nietzsches als Reaktion auf die ‘Kröte’: Denn der Ekel, den Miss Miller an «gewissen Familienmitglieder» wahrnimmt und 1-2 Sekunden selber verspürt, kommt in folgendem Satz wieder hervor:
Es fällt mir, wie es mich dünkt, viel leichter, angenehme Suggestionen abzuwehren und in meinen wirklichen Eindruck von Ekel zurückzufallen, als umgekehrt (S. 582).
Das heisst, der Ekel, den ‘Kaviar hinunterzuschlucken’ dauert an. Ihre Hilflosigkeit dieser Situation gegenüber kompensiert sie mit dem Gefühl, eine ägyptische Statue mit Insignien, d.h. wohl eine zaubermächtige Gestalt zu sein:
Es ist grossartig, und ich empfand mit Bedauern, wie dieser Eindruck schwand, so wie ein Regenbogen sich auflöst; und ebenfalls wie ein Regenbogen wiederholte er sich abgeschwächt, bevor er gänzlich verging.
Sie gefällt sich in der Pose der ägyptischen Statue, in der sie sich über alles erhaben fühlt. Ihr Gefühl der Überlegenheit tut sie im Beispiel 6 kund:
Ein ziemlich bekannter Künstler wollte einige meiner Publikationen illustrieren. Nun habe ich in diesen Belangen meine eigenen Vorstellungen und in schwer zufriedenzustellen. (S. 583)
«Ein ziemlich bekannter Künster» geht auf sie zu und will ihre Publikationen illustrieren; die Erwähnung hebt natürlich die Bedeutung ihrer Persönlichkeit hervor und ist als Kompensation ihrer Ohnmacht und Todesphantasien zu werten. Sie liess ihn den Genfersee nach ihren Vorstellungen zeichnen:
Er behauptete: ich vermöge ihn Dinge zeichnen zu lassen, die er nie zuvor gesehen, und ihm die Empfindung einer entsprechenden Atmosphäre zu vermitteln, die er nie erlebt hatte.
C. G. Jung kommentiert, dass Miss Miller hier ihre beinahe magische Wirkung auf einen anderen Menschen hervorhebt, und zwar aus einer inneren Nötigung heraus, weil ihr eine wirkliche Gefühlsbeziehung nicht gelingt. – Aber warum gelingt ihr keine wirkliche Gefühlsbeziehung? – Auf diese Frage gibt er keine Antwort.
Miss Miller schildert nun, wie sie den «ziemlich bekannten Künstler» behandelt:
Kurz ich bediente mich seiner wie er sich selbst seines Bleistifts, nämlich wie eines blossen Instrumentes.
Sie bedient den Künstler wie ein blosses Instrument, so wie er selber seinen Bleistift bedient. Das heisst wohl, bei ihm kann sie ihre magische Macht ausspielen, im Gegensatz zu gewissen «Familienmitgliedern», deren «Bleistift» sie erdulden muss. Dann merkt sie, dass sie vielleicht zu viel verraten hat und wiegelt ab:
Ich messe den paar Tatsachen, die ich hier berichtet habe, kein grosses Gewicht bei – sie sind so flüchtig und so nebelhaft – und ich nehme an, dass alle Leute von nervösem, einbildungsfähigem Temperament, die mittels Einfühlung fremde Eindrücke empfangen, vergleichbare Erlebnisse haben.
«Mittels Einfühlung fremde Eindrücke empfangen» weisen ebenfalls auf den Inzest, den sie möglichst ‘flüchtig und nebelhaft’ über sich ergehen lässt.
2.2. Meerfahrt
Miss Miller erzählt nun von einer Schiffsreise, die sie im Winter 1898 im Alter von 20 Jahren7 mit «ihrer Familie» unternommen hatte:
Nach einer langen und rauhen Reise von New York nach Stockholm, von da nach Petersburg und Odessa, war es für mich eine wahre Wollust
(une véritable volupté), die Welt der bewohnten Städte zu verlassen und in die Welt der Wellen, des Himmels und des Schweigens einzutreten
(S. 60)8.
Mit grosser, geradezu orgastischer Erleichterung hinterlässt sie die bewohnten Städte - und damit auch ihre «Familienmitglieder». Zwar erwähnte sie, dass sie die «Familie» begleitetet hatte, doch im Weiteren ist nur noch von der Mutter die Rede. Wer die Reise finanziert hatte, schreibt sie nicht.
Die Seefahrt führt sie dann von Odessa über Sizilien nach Livorno. In dieser Zeit lag sie Stunden lang in einem Liegestuhl auf Deck und liess die faszinierende Umgebung auf sich einwirken. Sie mied zuerst die Gesellschaft und schrieb ihren «Freuden in der Ferne» Briefe. C. G. Jung kommentiert:
Nachdem das Leben der Städte mit seinen vielen Eindrücke ihr Interesse an sich gerissen hatte (mit jener bereits erörterten Suggestivkraft, welche den Eindruck gewaltsam erzwingt), atmet sie auf dem Meere erleichtert auf und versinkt nach all den Äusserlichkeiten in ihre Innenwelt mit absichtlicher Abspaltung der Umgebung, so dass die Dinge ihre Realität verlieren und die Träume zur Wirklichkeit werden (S. 61).
Mit «das Leben der Städte mit den Eindrücken und Äusserlichkeiten» wischt C. G. Jung Miss Millers Problem wieder einmal vom Tisch. – Miss Miller schreibt weiter:
Gegen Ende der Reise zeigten sich die Bordoffiziere von ihrer beflissensten und liebenswürdigsten Seite, und ich verwendete manche lustige Stunde darauf, ihnen Englisch beizubringen. (S. 584)
Dazu hält C. G. Jung allgemein fest, dass sich beim Kranken zunächst die Realität an Bedeutung verliert, bis zu einem Punkt, wo er in Panik gerät und krankhaft versucht, wieder an die Realität anzuknüpfen (S. 61), wie hier Miss Miller und den Bordoffizieren. Während Miss Miller sich tagsüber mit den attraktiven Marineoffizieren unterhält, singt einer nachts voll Inbrunst, was sie «tief beeindruckte». Kurz darauf legte das Schiff in Neapel an. Ihr war nicht wohl und sie zitiert das alte Sprichwort «Neapel sehen und sterben». Sie ging nur kurz an Land und dann früh ins Bett:
.. ohne an Ernsteres zu denken als an die Schönheit der Offiziere,
und die Hässlichkeit der Bettler in Italien. (S. 584)
Ihr Unwohlsein weist auf den tiefen Eindruck, den der Sänger auf sie machte, so denkt sie im Bett auch an die Schönheit der Offiziere. - Hier zeigt sich auch einmal mehr, wie sie mit einem Problem umgeht; sie versucht es zu bagatellisieren: «Nichts Ernstes, bloss ….»
Über Nacht fuhr das Schiff von Neapel nach Livorno, unruhig träumte sie von Schöpfung und machtvollen Chorälen. Die Stimme ihrer Mutter weckte sie. Die wirren Gedanken fasste sie im Satz «When the morning stars sang together» (Hiob 38,7) zusammen, aus dem dann ihr Gedicht hervorging:
Als der Ewige zuerst den Ton schuf, entsprang eine Myriade Ohren zu hören. Und durch das ganze Weltall, da grollte ein Echo tief und klar: «Allen Ruhm dem Gott des Tons!» Als der Ewige zuerst das Licht schuf, entsprang eine Myriade Augen zu sehen. Und Ohren, die hören und Augen, die sehen, erhoben aufs neue einen mächtigen Chor: «Allen Ruhm dem Gott des Lichts». |
Als der Ewige zuerst die Liebe schuf, entsprang eine Myriade Herzen ins Leben, Ohren füllten sich mit Musik, Augen mit Licht, erschallen mit Herzen, übervoll mit Liebe weithin: «Allen Ruhm dem Gott der Liebe.» (S. 63, vgl. S. 585f.) |
«When the morning stars sang together»
von William Blake, pinterest.ch
Die Idee ihres Gedichtes «When the morning stars sang together» dürfte aus der Erinnerung an Hiob 38 entstanden sein. Doch ist bei Hiob Gedicht vom «Licht» die Rede, das dem Frevler genommen wird und nicht von einer Schöpfungstat:
Den Frevlern wird ihr Licht genommen, und der erhobene Arm wird zerbrochen. (V. 15)
Wo ist der Weg zur Wohnung des Lichts, und wo hat die Finsternis ihren Ort? (V. 19)
Auf welchem Weg breitet das Licht sich aus, verteilt der Ostwind sich über die Erde? (V. 24)
Der Ewige, der zuerst den Ton, dann das Licht und zuletzt die Liebe erschuf, erinnert sie undeutlich an Miltons «Paradise lost». Sie denkt an die wertvolle Ausgabe im Hause, deren Bilder sie als Kind immer wieder bestaunte
Wovon wir zu Hause eine schöne Ausgabe besassen, illustriert von Gustave Doré, in der ich seit meiner Kindheit immer wieder geblättert hatte (S. 586).
«Paradise lost» schildert den Kampf zwischen Gott und den abgefallenen Engeln, einen Kampf Gottes gegen Satan und seiner Heerschar, die sich offenbar in ihrem Kinderherzen einprägt hatten: Da bricht Satan etwa auf zum Höllentor und findet dort die Wächter «Sünde» und «Tod»:
Die Sünde, die den Unterleib einer Schlange trägt, entsprang einst Satans Kopf, ist also seine Tochter, und zeugte mit ihr den Tod. Nach der Rebellion wurden sie in den Höllenschlund geworfen, aus der Paarung von Mutter (die Sünde) und Sohn (der Tod) entstehen die Höllenhunde (Wikipedia).
Es geht um Inzest zwischen Vater (Satan) und Tochter (Sünde), aus dem der Tod entsteht, aber auch um Inzest zwischen Mutter und Sohn, aus dem die Höhlenhunde hervorgehen. Weiter wird geschildert, wie Adam und Eva im Paradies in grosser Harmonie lebten. Trotz allen Warnungen und Einsichten essen sie - keinen Kaviar, dafür die verbotene Frucht, verlieren ihre Unschuld und werden aus dem Paradies verwiesen. - Es ist ein merkwürdiger Vergleich zu ihrem Gedicht, einem Loblied auf den «Ewigen» - ganz ohne Götterkampf, Schuld, Inzest oder Sünde.
Miss Miller überlegt sich nun, weshalb sie als erste Schöpfertat «Sound» hat und erwähnt den Nous, den «Geist», der aus dem Chaos den Kosmos erschaffen hatte. Eine Vorstellung der Philosophen Anaxagoras und Leibniz, die sie allerdings bei der Entstehung ihres Gedichts noch gar nicht gekannt hatte, wie sie betont. Nach dieser philosophischen Betrachtung kommt Miss Miller wieder auf Miltons «paradise lost» zurück, wobei sie das erste Versmass von «paradise lost» mit ihrem Gedicht vergleicht:
Wenn man nun meinen ersten Vers mit den ersten Worten des «Verlorenen Paradises» vergleicht, stellt man fest, dass das Versmass dasselbe ist
(u - /u- /u- u/):
- Of man’s first disobedience…
- Of the Eternal first made sound.
Die zwei Zeilen passen zwar vom Versmass, aber auch hier verdrängt sie die Aussage von «of man’s first disobedience» und setzt an dessen Stelle glorifizierend die Erschaffung des Tones.
Nachdem sie entzückt das Versmass verglichen hatte, hebt sie nun hervor:
Überdies erinnert die Grundvorstellung meines Gedichtes ein wenig an verschiedene Stellen in Hiob, und auch an ein oder zwei Stücke aus dem Oratorium von Händel (eigentlich Haydn) «die Schöpfung». «Die Schöpfung», (das irgendwie schon am Anfang des Traumes hineinspielte). (S. 587).
Hiob hat alles verloren, ungerecht, wie er es sieht, und verlangt jetzt von Gott Rechenschaft für sein Unheil. Was er nicht weiss, ist das Streitgespräch zwischen Gott und Satan, mit dem sich C. G. Jung ausführlich beschäftigen wird. Doch in Hiob 1 wird auch die harmonische Familie Hiobs vorgestellt. Das Familienglück wird wie folgt geschildert:
Seine Söhne aber pflegten Gastmähler zu halten, ein jeder in seinem Haus an seinem Tag. Und sie sandten zu ihren drei Schwestern und luden sie ein, mit ihnen zu essen und zu trinken. Wenn dann die Tage des Gastmahls vorüber waren, sandte Hiob zu ihnen und liess sie weihen, und früh am Morgen brachte er für jedes Kind ein Brandopfer dar. Denn Hiob dachte: Vielleicht haben meine Kinder gesündigt und Gott gelästert in ihrem Herzen. Das tat Hiob jedes Mal (Hiob 1,4f., Zürcher Bibel).
Da essen und trinken die Geschwister fröhlich miteinander, und Hiob denkt, vielleicht haben sie gesündigt. Woran denkt er da? An Inzest zwischen den Geschwistern. Im Alten Testament steht darauf die Todesstrafe.
Ihr sollt euch mit nichts dergleichen unrein machen; denn mit alledem haben sich die Völker unrein gemacht, die ich vor euch her vertreiben will. Das Land wurde dadurch unrein, und ich suchte seine Schuld an ihm heim, dass das Land seine Bewohner ausspie. Darum haltet meine Satzungen und Rechte und tut keine dieser Gräuel, weder der Einheimische noch der Fremdling unter euch (III. Mose 18,24-26).
Als Familienoberhaupt fühlt sich Hiob für das Verhalten seiner Kinder verantwortlich, deshalb bringt er Gott nach jedem Fest ein Brandopfer für jedes seiner Kinder. Doch trotz Brandopfer verstiessen diese Familienfeste, meines Erachtens, gegen kosmisches Gesetz und mussten sterben.
2.3. Vaterimago
In der folgenden Nacht träumt sie unter dem Eindruck des singenden Marineoffiziers die Grundzüge ihrs Gedichts. Dazu schreibt C. G. Jung, dass sie den erotischen Eindruck, den der Sänger auf sie gemacht hatte «nicht unbeträchtlich unterschätzt hat». Er kommentiert allgemein, es sei eine Erfahrung:
.., dass relativ schwache erotische Eindrücke oft unterschätzt werden. Man kann dies am besten in den Fällen sehen, wo die Beteiligten aus sozialen oder moralischen Gründen eine erotische Beziehung für unmöglich halten (zum Beispiel Eltern und Kinder, Geschwister, Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Männern usw.) (S. 64)
Wie kommt C. G. Jung dazu, bei «schwachen erotischen Eindrücke» an «erotische Beziehung von Eltern zu Kindern» zu denken? Das passt doch gar nicht zum singenden Italiener, - aber zum «Kaviar Essen unter gewissen Familienmitgliedern». Das heisst, er weiss um die Problematik von Miss Miller, will sie aber nicht wahrhaben. Er zeigt dann, wie ein erotischer Eindruck, dem die Anerkennung versagt wird, sich einer früheren Beziehungsform bemächtigt, wie etwa bei jungen Mädchen, bei denen sich zur Zeit ihrer ersten Liebe
bemerkenswerte Schwierigkeiten der Ausdrucksfähigkeit einstellen, die sich auf Störungen durch regressive Wiederbelebung des Vaterbildes oder der Vater-Imago reduzieren lassen (S. 65).
Miss Miller ist aber 20 Jahre alt, da ist die erste Liebe schon durchlitten! Auf diese erste Liebe kommt sie auch zu sprechen:
Im Alter von neun bis sechzehn Jahren ging ich alle Sonntage in eine Presbyterianerkirche, an der damals ein sehr gebildeter Mann als Pfarrer amtete, der jetzt Präfekt eines hoch angesehenen Colleges ist.
Und erinnert sich, wie sie als kleines Mädchen bemüht war, die Worte der Predigt zu verstehen:
In einer der frühesten Erinnerungen, die ich von ihm bewahrt habe, sehe ich mich als ganz kleines Mädchen in einem grossen Kirchenstuhl sitzen in beständiger Bemühung, mich wach zu halten und aufzupassen, ohne aber um alles in der Welt imstande zu sein, zu verstehen, was er damit sagen wollte, als er uns vom «Chaos», «Kosmos» und von der «Gabe der Liebe» (don d’amour) sprach. (S. 587)
Man stelle sich das vor, jeden Sonntag, sieben Jahre lang ging sie in die Kirche, um seine Predigt zu lauschen. - Diese Faszination: Sie spürte seine männliche Kraft und wohl auch den befreienden Orgasmus, den er jeweils in der Nacht auf den Sonntag mit seiner Partnerin erlebt hatte, und am Sonntagmorgen seine Wonne von der Kanzel herunter donnerte, das sich im Bild der ungeheuerlichen Taten Gottes im Erschaffen des Universums entlud. – Und ganz unten sass die kleine Kirchenmaus, die mit glänzenden Augen zum Wortgewaltigen aufschaut. Und da ist von «Chaos», «Kosmos» und der «Gabe der Liebe» die Rede.
Der Pfarrer ist von Amtes wegen eine Vater-Figur, aber auch ihre erste heimliche grosse Liebe. Wie schmerzlich musste ihr sein Abschied gewesen sein, als er die Präfektur «eines hoch angesehenen Colleges» antrat. - In der unruhigen Nacht auf See träumte sie diffus von Chaos und Kosmos, Worte aus der Predigt. Und dann weckte sie die Mutter. Sie schrie ihre Mutter an und sagte:
Sprich nicht mit mir! Kein Wort! Ich habe soeben den schönsten Traum meines Lebens gehabt, ein richtiges Gedicht! Ich habe die Wörter, die Strophen und sogar den Kehrreim gesehen und gehört. Wo ist mein Album? Ich muss es augenblicklich niederschreiben, bevor ich irgend etwas davon vergesse!
Geradezu hysterisch erklärt sie: «es ist der schönste Traum meines Lebens». Es ist ein emotionaler Höhepunkt, ihre Sehnsucht und Begehren ist mit dem Singen des Italieners aufgebrochen, seine Person vermischt sich mit dem des anderen. Doch dann kommen Zweifel, Schuldgefühle auf, sie erinnert sich an die wunderschöne Ausgabe von «paradise lost», die von Gott, Inzest und Schuld handelt. Motive, die sie treffen. Um diesen Erinnerungen zu entgehen, erklärt sie den Kosmos, der aus dem Chaos entstand, als philosophische Frage. Doch just die Erwähnung der ersten Zeile von «paradise lost» weist sie zurück auf ihr ursprüngliches Problem: «Von der ersten Sünde des Menschen» ist da die Rede. Die Schuld am Inzest wird durch die Erwähnung Hiobs noch verstärkt. Dieser kämpft mit Gott, pocht auf seine Unschuld, im Hintergrund die Schuld, der Inzest seiner Söhne und Töchter. – Für Miss Miller bringt die Erwähnung Hiobs eine vorläufige Versöhnung, und schreibt, dass «die Schöpfung», - wohl eher das «Halleluja» von Händel -, von Anfang an ihrem Gedicht Pate gestanden hatte. Aus dieser Stimmung heraus kann sie auch näher auf ihren verdrängten Schmerz eingehen: Zuerst erinnert sie sich an einen Artikel, den ihr als Fünfzehnjährige ihre Mutter vorlas: «Idee, die spontan ihr Objekt erzeugt». Da geht es um Zeugung – rein abstrakt wie ihre heimliche Liebe, die ihr schlaflose Nächte verursachte. Erst dann erwähnt sie den Mann ihrer Sehnsüchte, der sehr gebildete Pfarrer in der Presbyterianerkirche: Sie liebt ihn abgöttisch, während er von der Glorie Gottes predigt und vom «Geschenk der Liebe».
C. G. Jung sieht im Pfarrer eine distanzierte Autorität, die sich offensichtlich nicht für Miss Miller privat interessierte. Doch auch zum nächtlichen Sänger kam keine Verbindung zustande, so musste sie ihre Gefühle verdrängen, diese regredieren und beleben das Vaterimago und damit auch die Frage «wie werde ich schöpferisch?»:
Die Natur kennt darauf zunächst nur eine Antwort: «Durch das Kind (don d’amour?!).
Zum Kind kommt man durch den Vater. Doch dieser Gedanke ist mit dem verbotenen Inzest verbunden. Der Vater wird deshalb allmählich durch
«höhere Formen des Vaters» ersetzt, durch die Autoritäten und den «Vätern» der Kirche und zudem von ihnen sozusagen sichtbar dargestellten Vatergott. (S. 72)
Da keine sexuelle Verbindung zustande kommt, bietet die Mythologie einen trostreichen Ausweg: das göttliche Pneuma, das in den Schoss der Jungfrau eindringt, der «Windstoss» des Anaxagoras, «der göttliche Nous, der aus sich selber zur Welt geworden ist». Der tröstliche Mythos besagt: «Ich bin auch Mutter geworden», nämlich durch die «Idee, die spontan ihr Objekt erzeugt» und Miss Miller verständlicherweise schlaflose Nächte bereitete (S. 73).
Dann hält C. G. Jung fest, dass alles Psychische eine untere und eine obere Bedeutung hat,
bei einer zu geistigen Leistung offenbar befähigten Persönlichkeit ist die Aussicht auf geistige Fruchtbarkeit etwas, das höchster Erwartung würdig ist, und für viele ist es sogar eine Lebensnotwenigkeit. (S. 73)
Auch weisen Träume immer wieder auf künftige Lebensziele hin. Bei Miss Miller denkt er wohl an ihre konkrete und geistige Mutterschaft. Bei ihren Beispielen wie «paradise lost», das durch den Vers «Of man’s first disobedience…» präzisiert wird, betont C. G. Jung, dass die Auswahl der Zitate nie zufällig sind:
Es ist so, und darum besteht ein zureichender Grund, warum es so ist. Es ist eine Tatsache, dass das Gedicht mit dem Sündenfall zusammenhängt, und in dieser Andeutung drängt sich eben jene Problematik hervor, die wir oben vermutet haben. (S. 68)
Und weist auf die Analogie von «paradise lost» zu «Hiob»: Hiob verliert alles, pocht auf seine Unschuld. Hiob aber weiss nichts von der Unterredung zwischen Gott und dem Satan. Für Miss Miller bedeutet dies:
Ein Gefühl, etwas verloren zu haben, was mit satanischer Versuchung zusammenhängt. Es geht ihr wie Hiob, dass sie unschuldig leidet, denn sie ist der Versuchung doch nicht zum Opfer gefallen. (S. 69)
Hiob beteuert immer wieder seine Unschuld, wird aber von seinen Freunden nicht verstanden. C. G. Jung vergleicht dieses Verhalten mit dem von Geisteskranken, die ebenfalls ihre Unschuld gegen nicht existierende Angriffe verteidigen:
Bei näherem Zusehen aber entdeckt man, dass der Kranke, indem er scheinbar grundlos seine Unschuld verteidigt, damit bloss ein Selbsttäuschungsmanöver vollzieht, dessen Energie gerade jenen Triebregungen entstammt, deren Charakter eben durch den Inhalt der vermeintlichen Vorwürfen und Verleumdungen enthüllt wird.
Auch Cyrano de Bergerac leidet, jedoch anders als Hiob, an seiner hoffnungslosen Liebe und am Unverstandensein. C. G. Jung folgert daraus:
..., dass in der Seele der Dichterin sich etwas mit diesen Bildern identifiziert, leidet wie Cyrano und Hiob, das Paradies verloren hat und «Schöpfung» träumt oder plant – Schöpfung durch den Gedanken – Befruchtung durch den Windhauch des Pneumas. (S. 70)
Nachdem Miss Miller den Pfarrer erwähnt hat, und wie sie als kleines Mädchen auf der Kirchenbank über die Bedeutung der Predigt den Kopf zerbrochen hatte, kommt sie auf ein weiteres Beispiel ihrer übernatürlichen Fähigkeiten zu sprechen. Sie erzählt, wie sie Schwierigkeiten mit Geometrie hatte, aber im Schlaf die Lösung gefunden hatte:
Gleiches ist mir auch mit einer lateinischen Vokabel passiert, die ich wiederzufinden versuchte. (S. 587)
In Latein, die Sprache der Kirche, suchte sie nach einem Wort, das sie ebenfalls in der Nacht fand. Und plaudert dann von Briefen, die sie von «Freunden in der Ferne» erhalten hatte, genau zum Zeitpunkt, den sie im voraus berechnet hatte.
Ich ziehe diesen Schluss aus dem Umstand, dass ich einige Male auch geträumt habe, dass ich Briefe bekäme, die dann gar nicht eintrafen.
Wer waren «die Freunde in der Ferne»? Sue, Joan oder Jack? Man weiss es nicht, sie kommen sonst auch nicht vor. – Es waren wohl dieselben, denen sie auf Deck von Odessa nach Livorna Briefe geschrieben hatte. Von den «Freunden in der Ferne» hatte sie Briefe erwartet, die teils eintrafen, manchmal aber auch nicht. - Auffällig ist die unbestimmte Erwähnung von Freunden und erinnert an ihr erstes Beispiel «gewisse Familienmitglieder», die Ekel vor dem Kaviar empfanden, dabei aber ein Geheimnis aufdecken, nämlich Inzest. Auch mit «den Freunden in der Ferne» will Miss Miller etwas verheimlichen, wohl den Pfarrer, den sie vorher so leichthin erwähnt hatte, aber dessen überragende Bedeutung für sie dann doch noch zum Vorschein gekommen ist in:
7 Jahre – jeden Sonntag – Chaos – Kosmos – Geschenk der Liebe
Doch nach sieben Jahren ist er plötzlich weg, ist Präfekt eines hoch angesehenen Colleges, - einem College, zu dem sie offenbar keinen Zutritt hatte. Warum nicht? – Es war wohl nur für männliche Jugendliche vorgesehen! – Deshalb streicht sie whrscheinlich auch ihre Intelligenz so heraus: Geometrie – kann sie im Schlaf! Ebenso Latein! Philosophie? Da nimmt sie die Antwort grosser Philosophen gleich vorweg! Und was Sprache betrifft, sie schreibt auf Französisch. Kurz: Was Intelligenz betrifft, kann sie es locker mit jedem College-Studenten aufnehmen. – Ihre Weiblichkeit dürfte der Grund gewesen sein, ihr den Zutritt zum College zu verweigern und dem sehr gebildeten Pfarrer nahe zu sein. Und so schreibt sie «den Freunden in der Ferne», genauer dem Pfarrer Briefe, in der Hoffnung, dass er ihr zurückschreibt.
C.G. Jung geht jedoch nicht auf ihre Briefe ein. Doch eigenartigerweise bringt er zu seiner Erläuterung, dass Kranke scheinbar grundlos ihre Unschuld verteidigen, in der Fussnote (!) ein aufschlussreiches Beispiel. Er schreibt:
Ich erinnere mich z.B. an den Fall eines zwanzigjährigen geisteskranken Mädchens, das ständig seine Unschuld verdächtigt wähnte, was es sich nicht ausreden liess. Allmählich entwickelte sich aus der entrüsteten Verteidigung heraus eine Erotomanie mit entsprechender Aggressivität (S. 69, Anm. 13).
«Erotomanie mit entsprechender Aggressivität» wird heute auf gut Neudeutsch als «Stalking» bezeichnet. Und ist es nicht C. G. Jung, der betont, dass die Wahl der Beispiele nicht zufällig sind? Das gilt natürlich auch für ihn, wenn er von Nietzsche spricht, der eine Kröte verschlucken musste, oder hier von der Stalking-Patientin, die just so alt war wie Miss Miller. Er nimmt damit unbewusst Bezug zu Miss Miller. Sie hatte dem Pfarrer viele Briefe geschrieben, auf die er anfangs reagiert hatte, mit der Zeit nicht mehr. Auch diese Schrift dürfte letztlich ihm gegolten haben. Hier fasst sie die Betrachtungen ihrer intellektuellen Fähigkeiten wie folgt zusammen:
... von der «Idee, die spontan ihr Objekt erzeugt», von der «Gabe der Liebe», vom «Chaos» und vom «Kosmos». Wie unregelmässige bunte Glassplitterchen in einem Kaleidoskop prachtvolle, seltene Muster bilden, so setzten sich meiner Meinung nach die von mir vorhandenen Brocken von Philosophie, Ästhetik und Religion zusammen (587f.)
Es sind «Glassplitterchen in einem Kaleidoskop», die ihr auf der Seereise wieder hochkommen:
Zusammen mit der grossen Stille und dem unfassbaren Zauber des Meeres – um diesen schönen Traum zu erzeugen. Es war nur dies, und weiter nichts: «Only this and nothing more!» (S. 588)
«Only this and nothing more!», das sie hier zweimal erwähnt, ist aus dem Gedicht «the Raven» von Edgar Allan Poe, wo der Rabe einem Mann den Tod seiner Geliebten immerfort in Erinnerung ruft.
«Ein schöner Traum» - «Only this and nothing more”: Ist das eine Drohung? Hat der Pfarrer sie in seinen Briefen abgewiesen? Fühlt sie sich dem Tode nahe, weil Inzest Tod bedeutet? Und jetzt auf hoher See fernab der Heimat realisiert sie, ihre Gefühle für den Pfarrer waren nur ein schöner Traum, der sich im Marineoffizier wiederholt, weil auch er kein Interesse an ihr zeigt. – In ihrer Verzweiflung schickt sie den «Freunden in der Ferne» oder «gewissen Familienmitgliedern» eine Warnung: Wenn sie tot sei, soll er sich ein Leben lang schuldig fühlen.
C. G. Jung schreibt zu «only this and nothing more», dass es sich um einen Verzweiflungsakt verlorener Liebe handelt und sieht den Grund ausschliesslich beim nächtlichen Sänger. Da ihr Begehren keine konkrete Erfüllung findet, arbeitet es im Unbewussten weiter:
... und produziert symbolische Phantasien. Zuerst sind es die «singenden Sterne des Morgens», dann das verlorene Paradies, dann kleidet sich die Sehnsucht in ein priesterliches Gewand, spricht dunkle Worte über Weltschöpfung und erhebt sich schliesslich zum religiösen Hymnus, um endlich dort einen Ausweg ins Freie zu finden. (S. 76).
Daraus folgert er:
Der nächtliche Sänger ist auf dem Umwege der Beziehung zur Vater-Imago zum Schöpfer geworden, zum Gott des Tones, der Lichtes und der Liebe». (S. 77)
Mit ihrem Gedicht entfaltet sie ein Ideal von Schöpfung, doch in Hiob 40 demonstriert Gott seine Macht vor dem leidenden Hiob und donnert aus dem Sturm: «Gürte wie ein Mann deine Lenden» und hält ihm seine Schöpfung vor: Als erstes Wesen schuf er Behemoth9, ein Ungeheuer:
Siehe da den Behemot, den ich geschaffen habe, wie auch dich!
Er frisst Gras wie ein Rind.
Siehe, welch eine Kraft ist in seinen Lenden und
welch eine Stärke in den Muskeln seines Bauchs!
Sein Schwanz streckt sich wie eine Zeder;
die Sehnen seiner Schenkel sind dicht geflochten.
Seine Knochen sind wie eherne Röhren, seine Gebeine wie eiserne Stäbe.
Er ist das erste der Werke Gottes;
der ihn gemacht hat, gab ihm sein Schwert. (Hiob 40,15-19)
Gott betont bei seinem ersten Geschöpf dessen Geschlechtsteil, die Stärke seiner Lenden, sein Schwert. Das Ungeheuer liegt unter Lotosbüschen im Schatten, von aussen nicht sichtbar, oder im Wasser (des Jordans), wo man ihn ebenfalls kaum bemerkt. «Versteckt unter idyllischen Lotosblättern, und im Fluss», mit stakren, übermächtigen Gliedern - für Miss Miller ein Sinnbild ihre heile Familie, in deren Hintergrund ein zeugendes, aggressives Ungeheuer lauert. Doch dem nicht genug, in Hiob erschuf Gott neben Behemoth ein weiteres Ungeheuer, Leviathan (Krokodil) mit einem ungeheuren Gebiss, das wohl im Nu allen Kaviar auf der Welt samt Miss Miller verschlingen kann. (Hiob 41,1-4).
Gott ist das Ungeheuer in seinem fruchtbaren und zerstörerischen Aspekt, zu dem C. G. Jung schreibt:
Dies sagt Gott, um Hiob seine Macht und Urgewalt nachdrücklich vor Augen zu führen: Gott ist wie der Behemoth und Leviathan: die Segen spendende, fruchtbare Natur – und die überwältigende Gefahr der entfesselten Gewalt (S. 80).
C. G. Jung fragt sich auch:
Was aber hat das irdische Paradies Hiobs zerstört?
Die entfesselte Naturgewalt. Die Gottheit hat, wie der Dichter hier durchblicken lässt, einfach einmal ihre andere Seite, die man Teufel nennt, herausgekehrt und alle Schrecken der Natur auf Hiob losgelassen. (S. 80)
Und folgert daraus:
Dieser Gott wohnt im Herzen, im Unbewussten. Dort ist die Quelle der Angst vor dem unsagbar Schrecklichen und der Kraft, dem Schrecken zu widerstehen. Der Mensch, das heisst sein bewusstes Ich, aber ist wie ein Spielball, wie eine Feder, die von verschiedenen Windströmungen herumgewirbelt wird, bald das Opfer und bald – der Opferer.
Und fasst zusammen:
Das Buch Hiob zeigt uns den Gott als Schöpfer und Zerstörer am Werk.
Die Gottesidee ist nicht nur ein Bild, sondern auch eine Kraft. Die Urgewalt, die ihr Hiobs Schöpferhymnus vindiziert, das Bedingungslose und Unerbittliche, Ungerechte und Übermenschliche sind echte und rechte Attribute der natürlichen Instinkt- und Schicksalskraft, die uns «ins Leben hineinführt», die «Armen schuldig werden» lässt, und gegen die der Kampf in letzter Instanz vergeblich ist. (S. 80f.)
Es ist Miss Miller, die in ihrer Assoziationsreihe die Schöpfung im Buche Hiob erwähnt. Sie verbindet ihre eigene Erfahrung mit diesen Stellen, Bilder eines Kampfes zwischen Gott und Satan, und Gott als Behemoth und Leviathan, den Ungeheuern. C. G. Jung hält ihre Assoziationen als Verdrängungsmaterial:
Man kann nämlich den Verdacht nicht unterdrücken, dass über das kritische Erlebnis (den Sänger) geflissentlich hinweggesehen wurde, das heisst mit andern Worten, dass eine gewisse «Verdrängung» stattgefunden hatte (S. 83).
Aber genau das macht sie nicht! Es ist C. G. Jung, der «geflissentlich wegschaut», nämlich vom der Ungeheuerlichkeit in ihrem idyllischen Familienleben, vom Inzest, auf den sie in ihren Beispielen deutlich hinweist. Es sind Stellen, die sie sehr genau kennt: Eine Ausgabe von Paradise lost nimmt sie seit ihrer Kindheit immer wieder zur Hand. Und Hiob kennt sie aus «sieben Jahren, jeden Sonntag». Da wird der hochgebildete Pfarrer immer wieder den Hiob und die Schöpfung Gottes erwähnt haben, vielleicht war Hiob auch seine Lieblingsfigur, an dem der Pfarrer seine gläubigen Zähne ausgebissen hatte.
Der von der Autorin selber beigebrachte Kontext ist so eindrucksvoll, dass auch ihr diese Hintergründe ziemlich lebhaft empfunden haben muss und daher die Verwandlung dieser Situation wohl durch einen mehr oder weniger bewussten Verdrängungsakt vollzogen hat.
Die Verdrängung bedeutet aber ein illegitimes Loswerden eines Konflikts; das heisst man täuscht sich über dessen Existenz hinweg. Was aber wird aus dem verdrängten Konflikt? Es ist ja klar, dass er weiterbesteht, obschon er dem Subjekt unbewusst ist (S. 84).
Ich denke, sie will dem Pfarrer zeigen, wie sehr sie ihn liebt, und dies in einem Gedicht kund tut, von dem sie annimmt, es werde ihm gefallen:
Vgl. C. G. Jung, S. 82:
Man meint, es sei schöner und edler, eine erotische Spannung unbemerkt in die erhabenen Gefühle religiöser Poesie, an denen vielleicht viele andere Menschen Freude und
Erbauung finden könnten, sich auflösen zu lassen; und es sei eine Art von ungerechtfertigtem Wahrheitsfanatismus, die Unbewusstheit einer solchen Lösung zu beanstanden.
Und dann auch von den ungeheuerlichen Missständen in ihrer Familie berichten, und zwar in einem Kontext, von dem sie annahm, das er sie versteht.
Früher war es Tabu, solche Missstände zu erwähnen. Hier ist es C. G. Jung, der dies nicht wahrhaben will. Es passt so gar nicht in sein Ideal von «höheren Formen des Vaters» (S. 72), von Autoritäten, zu denen er ja auch gehört. Mit dieser Ideologie verbaut er sich, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Zwar beschreibt er über die göttliche Ambivalenz von gut und böse. Ein Thema, das ihn ein Leben lang beschäftigt hatte. Aber was diese männliche «Urgewalt» konkret bedeutet, etwa im Leben von Miss Miller, interessiert ihn nicht. – In unserer Zeit werden solche Missbräuche immer mehr aufgedeckt: «Me-too»-Bewegung, katholische Kirche - gerade heute Morgen las ich beim Frühstück einen Artikel10 über einen Missbrauchsskandal in Israel: Ein Star-Pädagoge aus den ultraorthodoxen Gemeinden missbrauchte jahrelang Minderjährige und junge Frauen. Seinen Opfern erzählte der Peiniger, er sei Gott oder von Gott auserwählt und drohte ihnen, wenn sie etwas sagen, würde ihnen niemand glauben. Er fühlte sich sicher, unantastbar. Die Opfer sind häufig jahrzehntelang traumatisiert. Ein Rabbi, der jahrelang von einem Bekannten seiner Familie missbraucht wurde, konnte erst mit 45 Jahren darüber sprechen. Er sagt, die meisten Betroffene, denen er zuhört und helfen will, schämen sich und fühlen sich mitschuldig. – Und die Obrigkeit? Sie schweigt oder hält die Vorwürfe als Hetze.
2.4. Gottes-Imago
Nach C. G. Jung ist der Verdrängungsakt ein illegales Loswerden eines Konfliktes. Die Belebung eines Imagos führt zu einer Projektion, wobei dieses dann die Verantwortung für das Problem trägt. - Wäre aber ein künstlerisches Produkt wie das Gedicht von Miss Miller ohne Verdrängung zustände gekommen, sondern spontan, im vollen Bewusstsein der eigenen Mängeln, so stünde man vor einem völlig natürlichen Umwandlungsprozess:
In einem solchen Fall wäre zum Beispiel die aus der Vater-Imago hervorgehende Schöpfergottheit nicht mehr ein Verdrängungsprodukt, beziehungsweise ein Ersatz, sondern ein unvermeidliches Naturphänomen. Solche natürliche Verwandlungen ohne halbbewusste Konfliktsmomente sind alle genuinen künstlerischen oder sonstigen Schöpferakte. (S. 85)
Zu einem solchen genuin entstandenen Gottesbild schreibt er:
Das Gottesbild, das aus einem spontanen Schöpfungsakt hervorgeht, ist eine lebendige Gestalt, ein Wesen, das in seinem eigenen Rechte existiert und daher seinem angeblichen Schöpfer11 autonom gegenübersteht. (S. 85)
Eine solche Erscheinung hat C. G. Jung selber erlebt. In seiner Biographie «Erinnerungen, Träume, Gedanken» schreibt er, wie er bereits als kleinem Junge von einer numinosen Gestalt träumte, als Teenager erkannte er dessen ambivalenten Charakter, mit dem er seinen Vater konfrontiert hatte. Als er sich Mitte Dreissig mit dem Totenreich, dem Unbewussten, auseinandersetzte, tauchten zuerst die beiden Figuren Elias und Salome auf, die dann von einer neuen Figur ersetzt wurden. Diese Figur nannte C. G. Jung Philemon mit ausdrücklichem Bezug zu Faust, Teil II: Bei Faust geht es um das alte Ehepaar «Philemon und Baucis», die aufgrund der Gier Fausts, aus dem Meer Land zu gewinnen, ums Leben kamen. Bei C. G. Jung ist jedoch nur noch von Philemon die Rede:
Philemon war ein Heide und brachte eine ägyptisch-hellenistische Stimmung mit einer gnostischen Färbung herauf. Seine Gestalt erschien mir zuerst in einem Traum.
Libro rosso di C. G. Jung, aus Pinterest
Es war blauer Himmel, aber er schien wie das Meer. Er war bedeckt nicht von Wolken, sondern von braunen Erdschollen. Es sah aus, als ob die Schollen auseinanderbrächen und das blaue Wasser des Meeres dazwischen sichtbar würde. Das Wasser war aber der blaue Himmel. Plötzlich schwebte von rechts her ein geflügeltes Wesen herbei. Es war ein alter Mann mit Stierhörnern. Er trug einen Bund mit vielen Schlüsseln und hielt den einen so, wie wenn er im Begriff stünde, ein Schloss aufzuschliessen. Er war geflügelt, und seine Flügel waren wie diejenigen des Eisvogels mit ihren charakteristischen Farben. (Erinnerungen, S. 186).
Philemon ist C. G. Jungs zentrale mystische Figur, ein grosser Weiser, der auch in diesem Buch «Symbole der Wandlung» durch alles hindurchschimmert.
In «Symbole der Wandlung» erläutert er nun den Unterschied zwischen der Gottesidee als Verdrängungsakt oder als natürlicher Prozess: Beim Verdrängungsakt werden die eigenen Probleme unbewusst auf die numinose Figur projiziert, und ihr damit die Verantwortung für das eigene Problem übertragen. Beim natürlichen Prozess ist man sich seiner Schuld, seiner Sünden bewusst und überantwortet sie im vollen Bewusstsein auf Gott. Er verweist auf Bibelstellen, wie:
Tilman Riemenschneider: Evangelist Johannes
Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst irre, und die Wahrheit ist nicht in uns. (I. Joh. 1,8; S. 86)
Es ist eine Interaktion zwischen Gott und dem Menschen. Er erklärt, dass psychische Energie (Libido) zu einem Teil dem Ich zur Verfügung steht, der grössere Teil belebt das Gottesimago, d.h. den betreffenden Archetyp, der dem Menschen als autonome, intelligente Grösse gegenübertritt (S. 92). Im christlichen Glauben heisst das, Gott hat aus Liebe die Sünden des Menschen aus Liebe auf sich geladen und ist gestorben, hat sich geopfert:
Wie die ärztliche Behandlung die Person des Arztes als den Übernehmer des Konflikts des Patienten einsetzt, so die christliche Übung den Heiland; denn, wie es heisst, «in diesem haben wir die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Übertretungen» (Eph. 1,7; Kol. 1,14; Jes. 53,4).
Dieser Gott ist gekennzeichnet als selber schuldlos und als Selbstopferer. (S. 87)
Wenn Gott sich in einem Menschen inkarniert, erscheint dieser Mensch als Gott:
Der Mensch kann in archetypischer Gestalt erscheinen und dementsprechende Wirkungen ausüben; er kann gewissermassen an Stelle Gottes treten, weshalb es nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll ist, wenn sich andere Menschen auf ihn so beziehen, wie sie sich andererseits auf Gott beziehen. Diese Möglichkeit ist in der katholischen Kirche bekanntlich eine Institution, deren psychologische Wirksamkeit nicht zu bezweifeln ist. Aus dieser Beziehung entsteht eine Gemeinschaft archetypischer Natur. (S. 92)
Die Liebe Gottes zu allen Menschen schliesst die Liebe der Menschen untereinander mit ein. Sie führt zu einer Gemeinschaft, dabei denkt er an die katholische Kirche. Sie ist eine Gemeinschaft archetypischer Natur. C. G. gibt jedoch zu bedenken, dass solche Gemeinschaften eine psychische Intimität bewirken, die gewisse Gefahren bergen:
Es sind vor allem die Triebe der Macht und der Erotik, welche unvermeidlich konstelliert werden. Die Intimität schafft gewisse kürzeste Wege zwischen den Menschen, die nur allzu leicht dazu führen, wovon das Christentum Befreiung bringen will, nämlich zur Anziehung des Allzumenschlichen mit allen jenen Konsequenzen und Notwendigkeiten, unter denen der eigentlich schon hochzivilisierte Mensch um die Wende unserer Zeitrechnung zu leiden hatte (S. 92f.)
Offenbar spricht er hier Missbräuche in der katholischen Kirche an, will aber nicht darüber schreiben. Denn das Weglassen von Missständen bei Männern resp. Institutionen, die von Männern dominiert werden, hat bei C. G. Jung System. Er verdrängt Inhalte, die nicht in seine Ideologie von «höherem Vater», «Elias» oder «Philemon» passen. So sind Missstände in der katholischen Kirche schon lange bekannt, wie etwa Lord Byron in «Heaven and Earth» antönt, werden aber erst in unserer Zeit öffentlich thematisiert, dazu gehören etwa sexuelle Übergriffe auf Nonnen durch ihre Vorgesetzten, durch Priestern: In einem erschütternden Beispiel12, das in arte.de ausgestrahlt wurde, erzählt eine Nonne von einem Priester, der als Heiliger galt, wie er sich ihr körperlich näherte, weil er ihr «die Liebe Jesu spüren lassen wolle» (9:50 min) mit der Begründung: er sei «das kleine Werkzeug Jesu». Auch der ältere Bruder des Priesters interessierte sich für sie. Beide musste sie oral befriedigen. Über den älteren Pater erzählt sie:
Das war nicht sehr appetitlich, denn er war schon ein alter Mann und hatte keine gute Körperpflege. Er roch auch nicht besonders gut.
Sie nahm dies als eine Art Bussexerzitie hin.
Im Prinzip hätte ich mich weigern können, aber ich fühlte mich wie ein Vogel, der von einer Viper hypnotisiert wurde. (12:40 min.)
Die Reporterin hält fest:
die Nonne findet nicht die Kraft, sich den beiden Brüdern zu entziehen,
die sich abwechselnd bei ihren Besuchen missbrauchen.
Als brave Nonne wagt sie nicht, sich der Autorität der beiden Priester zu widersetzen. Wie viele Schwestern ist sie ausserdem mittellos (13:10 min.).
Ein Priester, ein Heiliger sieht sich als «kleines Werkzeug Jesu», der der Nonne die Liebe Jesu näher bringen will. Da tun sich ganz konkret göttliche Abgründe auf – Abgründe hier und jetzt, nicht in schöngeistiger Literatur, weit weg von der Realität.
Missbrauch aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeit dürfte auch bei Miss Miller zutreffen, aber man spricht nicht darüber. Stattdessen drückt sie sich mittels religiöser Literatur aus.
Von der katholischen Kirche als «eine Gemeinschaft archetypischer Natur» lenkt C. G. Jung das Interesse auf die Antike, wo Gotteserfahrung häufig durch körperlicher Vereinigung stattgefunden hatte. Die führte zu einer «moralische Zersetzung»:
Die moralische Zersetzung in den ersten christlichen Jahrhunderten erzeugte eine aus dem Dunkel der untersten Volksschichten aufkeimende moralische Reaktion, die sich im 2. Und 3. Jahrhundert am reinsten in den beiden antagonistischen Religionen, dem Christentum einerseits und dem Mithraismus13 andererseits, ausdrückte.
Lucius bei seiner Verwandlung in einen Esel
durch einen Zaubertrunk
Das Christentum und der Mithraismus hatten also zur moralischen Erziehung beigetragen. Aber auch die Mysterienreligion Isis und Serapis spielte eine grosse Rolle. Sie leitete die Menschen in Zucht und Ordnung an. Ein berühmtes Beispiel ist der Roman «Metamorphosen oder der Goldene Esel» von Lucius Apuleius (2. Jh. n. Chr.), den Marie-Louise von Franz14 kommentiert hatte: Der Romanheld Lucius wurde zur Strafe für seine erotische Beziehung zu einer Dienstmagd in einen Esel verwandelt und erlebte in dieser Gestalt ein abenteuerliches Leben. Am Ende schlief er mit einer liebestollen Frau, die seine sexuellen Künste als Esel in den höchsten Tönen lobte. Darauf hätte er öffentlich mit einer Ehebrecherin schlafen sollen. Das war dem «Esel» dann doch zu viel, und er bat die Göttin Isis, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Doch da war die Zeit seiner Strafe um, und «der Esel» Lucius wurde wieder in einen Menschen verwandelt.
Der moralische Anspruch der Christen war auch Aufstand gegen die allgemeine Verrohung der antiken Gesellschaft, ein Aufstand der Ärmsten, der Sklaven. Denn in jener Zeit waren Millionen Frauen und Männern versklavt. Ihre Besitzer konnten mit ihnen machen, was sie wollten. Bekannt sind die Amphitheater, wo Menschen für Hunderte Schaulustige wilden Tieren vorgeworfen oder auf andere Weise bestialisch getötet wurden. Ein eindrückliches Beispiel übernimmt C. G. Jung aus Augustins «Bekenntnisse». Da wurde der zum Christentum bekehrte Alypius in Rom von Kollegen ins Amphitheater eingeladen. Während der Vorstellung hielt sich Alypius die Augen zu, um nicht in den Blutrausch des Volkes zu verfallen, also rückfällig zu werden. Doch es nützte nichts, als der Erste im Kampfe schwer verwundet fiel, hörte er das Geschrei, öffnete die Augen und liess sich von der Ekstase des Pöbels mitreissen. Augustinus schreibt:
Denn da er das Blut sah, da sog er zugleich den Blutdurst ein und wandte sich nicht mehr ab, sondern richtete sein Gesicht darauf, schlang die Wut in sich und wusste es doch nicht und ergötzte sich an dem frevelhaften Kampfe und ward berauscht von dem blutigen Vergnügen. Nun war er nicht mehr derselbe, als welcher er gekommen war, … und der echte Spiessgeselle derer, die ihn hergeführt hatten. (S. 95)
www.lsg.musin.de
C. G. Jung folgert daraus:
Man darf gewiss annehmen, dass die Zivilisierung des Menschen schwerste Opfer gekostet hat. Eine Zeit, die das stoische Ideal geschaffen hat, wird wohl gewusst haben, wozu und gegen was sie es erfand.
Und zitiert aus dem 41. Briefes an Lucilius von Seneca aus der Zeit des Kaisers Nero:
Triffst du irgendwo einen Menschen, unerschrocken in Gefahren, unberührt von Lüsten, glücklich im Unglück, ruhig mitten im Sturm, erhaben über die gewöhnlichen Sterblichen, auf gleicher Stufe mit den Göttern: erfasst dich nicht auch da die Ehrfurcht?
Wie die Strahlen der Sonne zwar die Erde berühren, aber doch nur dort zu Hause sind, von wo sie gekommen, so verkehrt ein grosser heiliger Mensch, der zu uns gesandt wurde, dass wir das Göttliche besser kennen lernen, zwar mit uns, gehört aber eigentlich doch seiner ursprünglichen Heimat an; dorthin blickt und strebt er, unter uns wandelt er als ein höheres Wesen. (S. 96)
Dazu meint C. G. Jung:
Die Menschen jenes Zeitalters waren reif geworden zur Identifikation mit dem Fleisch gewordenen Logos, zur Gründung einer Gesellschaft, welche eine Idee einigte, in deren Namen sie sich lieben und Brüder nennen konnten. Die Idee eines Mittlers, in dessen Namen neue Wege der Liebe erschlossen wurden, wurde zur Tatsache, und damit tat die menschliche Gesellschaft einen ungeheuren Schritt vorwärts.
Und betont:
Dazu hatte nicht eine spekulativ ausgeklügelte Philosophie, sondern ein elementares Bedürfnis der in geistigem Dunkel vegetierenden Masse geführt. (S. 97)>
Es war eine moralische Bändigung der Triebe, die damals als Erlösung empfunden wurde, die wir kaum noch nachempfinden können. So sind uns auch die Bedürfnisse der christlichen Gemeinschaft abhanden gekommen, weil wir ihren Sinn nicht mehr verstehen. C. G. Jung wendet dann ein:
Allerdings muss hervorgehoben werden, dass die christliche Erziehung zum Geist unvermeidlicherweise zu einer unzuträglichen Minderbewertung der Physis geführt und damit in gewissem Sinne ein optimistisches Zerrbild des Menschen hervorgebracht hat. Man kommt sich zu gut und zu geistig vor, und man ist zu naiv und zu optimistisch.
Und weist auf die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert, wo sich menschliche Abgründe aufgetan hatten:
Wir wissen nun, wessen der Mensch fähig ist, und was uns droht, wenn die Massenpsyche wieder einmal die Oberhand erhalten sollte. (S. 98)
Und hält fest:
Massenpsychologie ist ins Unvorstellbare gehäufter Egoismus, denn ihr Ziel ist immanent und nicht transzendent.
Er kann es dann nicht lassen, den religiösen Wert des Gedichts von Miss Miller zu werten, und schreibt:
Miss Miller unterschätzt aber nicht nur ihre «Sünde», sondern der Zusammenhang der «niederdrückenden und unerbittlichen Not» mit ihrem religiösen Produkt ist ihr sogar verlorengegangen. So büsst dieses den lebendigen Wert des Religiösen ein. Er scheint nicht sehr viel mehr als eine sentimentale Umformung des Erotischen zu sein, welche sich unter der Hand und neben dem Bewusstsein vollzieht und prinzipiell daher etwa den gleichen ethischen Wert besitzt, wie der Traum, der sich auch ohne unser Zutun ereignet. (S. 99)
Es ist ein vernichtendes Urteil, genau wie über die Frau, die lachte, als Nietzsche ihr von seinem Traum erzählt hatte. – Wie kommt Nietzsche überhaupt dazu, bei einem Anlass sein intimstes Problem auszuplaudern? Wie hätte der grosse Philosoph Nietzsche reagiert, wenn Miss Miller neben ihm gesessen wäre, und da entzückt vom Kaviar geplaudert hätte? – Oder vom «Bleistift in seiner Hand»?
Jedenfalls hatte der grosse Psychoanalytiker Miss Miller nicht verstanden. Müsste er da nicht die religiöse Tradition der US-Amerikaner berücksichtigen? Die Pilgerväter, die als erste den Boden der Vereinigten Staaten betreten hatten? Zusammen mit ihren Familien samt Bedienstete, die aber nicht erwähnt werden15.
Denkmal der ersten Europäerinnen in Plymouth, Photo ek
In ihrer Not hatte sich Miss Miller nicht an den Arzt gewandt sondern an den sehr gebildeten Presbyterpfarrer, ging sieben Jahre jeden Sonntag in die Kirche, um Erlösung für ihre Sünden und die ihres Peinigers zu finden, und scheiterte.
Es ist C. G. Jung, der Miss Miller unterschätzt, nicht wahrhaben will, was ihm seine Ahnungen, sein Gefühl zuspielen. Es ist seine Selbsttäuschung, sein allzu optimistisches Ichbewusstsein als Mann, «höherer Vater» und Vertreter «Philemons». Und wie er auch bereit ist, sich Konventionen unterzuordnen, liest man in seinen Äusserungen zur katholischen Kirche. Sie ist eine Institution archetypischer Natur und weist dann allgemein auf die Gefahren von Machtmissbrauch und Erotik hin, ohne explizit die katholische Kirche zu nennen, stattdessen greift er aufs frühe Christentum als Reaktion auf die Sittenlosigkeit und Gewalt im römischen Reich. Es ist dasselbe Verhalten wie am Anfang des Buches, da spricht er von Inzest und beruft sicht auf Sigmund Freud, der ja selber des Inzests bezichtigt wurde16. Da wird Inzest als theoretisches Problem behandelt, weit weg von der gegenwärtigen Realität in eine ferne Zeit zurückprojiziert, und dann ja nicht als Vater-Tochter-, sondern als Mutter-Sohn-Beziehung. Es ist auch nicht eine Diskussion über Inzest einer erwachsenen Person zu einem minderjährigen Schutzbefohlenen, sondern über Inzest zwischen zwei erwachsenen Personen, die sich bei der Heirat gar nicht kannten. – So sieht Verdrängung, Selbsttäuschung aus!
2.5. Denken in der Antike und in unserer Zeit
C. G. Jung beklagt sich nun, dass unser Bewusstsein dem Rationalismus verfallen, und dadurch die Religion ins Hintertreffen geraten sei. Daraus folgert er, dass das Bewusstsein der elementaren Sündhaftigkeit ins Unbewusste verschwunden sei, was anfangs des 20. Jahrhunderts den Absturz des Anthropos zur Folge gehabt hatte. Im Gegensatz dazu, beschreibt er die Situation der frühen Christen in einer Welt voll Göttern und Dämonen, und zitiert Augustin:
Es ziehen die Menschen dahin, um zu bewundern die Höhen der Berge, und die gewaltigen Wogen des Meeres .. und verlassen sich selbst17.
Die Hingabe an die Faszination der Mutter Erde lässt den Menschen sich verlieren, d.h. wohl in einen ekstatischen Rausch verfallen, wie man dies vom Dionysos-Kult kennt18.
Das Christentum hat durch säkulare Erziehungsarbeit die animalische Triebhaftigkeit der Antike sowohl wie der nachfolgenden barbarischen Jahrhunderte so weit gebändigt, dass ein grosser Betrag an Triebkräften für den Aufbau einer Zivilisation frei werden konnte.
Wirkung dieser Erziehung zeigte sich zunächst in einer fundamentalen Einstellungsänderung, nämlich in der Weltflüchtigkeit und Jenseitigkeit der frühen christlichen Jahrhunderte. Diese Zeit erstrebte die Innerlichkeit und die geistige Abstraktion. (S. 99)
Geradezu schwärmerisch folgert er: Dies ermöglichte ein unabhängiges Denken, das nicht mehr von der emotionalen Wirkung des Eindruckes gefesselt wurde und sich später sogar zu reflektierender Beobachtung erheben konnte:
Damit war er in die Lage versetzt, in ein neues und unabhängiges Verhältnis zur Natur zu treten, auf jenen Fundamenten, welche der antike Geist gelegt hatte, weiterzubauen, und jene Beziehung zur Natur wieder aufzunehmen, welche die christliche Abkehr von der Welt hatte fallen lassen. Auf dem neugewonnen geistigen Niveau stellt sich nunmehr eine Verbindung mit Welt und Natur her, welche im Gegensatz zur antiken Haltung dem Zauber des Gegenstandes nicht verfiel, sondern diesen reflektierend betrachten konnte. (S. 102)
Da der Mensch nun dem Zauber des Gegenstandes nicht mehr verfiel, kann sein Geist in zunehmenden Masse in die Tiefen der Natur eindringen. C. G. Jung sieht dann auch die Kehrseite dieses Denkens:
Je erfolgreicher das Ein- und Vordringen des neuen wissenschaftlichen Geistes sich gestaltete, desto mehr wurde letzterer – wie es dem Sieger immer zu gehen pflegt – der Gefangene jener Welt, die er sich erobert hatte. (S. 104)
Die Folge dieser Einstellung waren die beiden Weltkriege.
Es ist also der Mensch, der in seinem unabhängigen Denken Gott gleich einer entseelten Natur gegenübersteht, mit der er nun machen kann, was er will. Bezeichnend ist die sexualisierte Sprache, mit der er diese Eroberung ausdrückt, es ist ein gewaltsames Eindringen, ein Vorwärtsdringen, ein in die Tiefe Dringen. Was C. G. Jung hier beschreibt, ist ein gut alttestamentliches Motiv, das explizit im Gleichnis vom «Töpfer» (Jer. 18) zum Ausdruck kommt: Es ist der Mythos vom zornigen Gott, der gegen sein treuloses Weib, das Volk Israel, vorgeht. Beim Gleichnis vom Töpfer befiehlt Jahwe den Propheten Jeremia, zum Töpfer zu gehen. Dieser war gerade an der Arbeit. Die missratenen Töpfe warf er weg, die anderen behielt er. Jahwe fragte den Propheten:
Kann ich mit euch nicht verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? Spruch des HERRN. Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel. Einmal rede ich über ein Volk und über ein Königreich, dass ich es ausreissen und niederreissen und vernichten will (Jer. 18, 6-7).
Der Töpfer macht aus Ton, das heisst aus lebloser Materie, Geschirr. Es hängt also von der Geschicklichkeit des Töpfer ab, wie das Geschirr wird. In dieser Linie spricht auch Jahwe: Genau wie der Töpfer kann ich mit Israel machen, was ich will. Ich kann es vernichten. Das ist die Kernaussage. Das heisst, das Motiv ändert sich: Während es beim Töpfer um seine Geschicklichkeit geht, geht es Jahwe um seinen Willen, mit dem Volk machen zu können, was er will. Damit manifestiert er auf unredliche Art seine Überlegenheit. So setzt Jahwe dem Volk Israel nun ein Ultimatum, entweder handelt es nach seinem Sinne, oder sonst wird es vernichtet. Das Volk Israel aber entscheidet sich gegen Gott: Nein, wir werden unseren Plänen folgen! (V. 12). Das göttliche Ultimatum richtet sich also an ein quick lebendiges Volk, das eigentlich nichts mehr mit dem Ton, einer toten Masse, zu tun hat.
Das Gleichnis vom Töpfer setzt beim Propheten Jeremia einen introvertierten Empfindungstyp19 voraus: Nach C. G. Jung nimmt die extravertierte Empfindung aussen wahr, was ist, ohne es zu werten. Jeremia jedoch nimmt die Situation aussen als archetypisches Muster wahr. Denn im kollektiven Unbewussten sind alle durchschnittlichen Erfahrungswerte gespeichert. Die Aggressivität Jahwes gehört zum Archetyp des Grossen Vaters, die auch das sexuelle Verhältnis zum Archetyp der Grossen Mutter bestimmt. Dann wird im menschlichen Bewusstsein gewertet: Denken wertet nach richtig und falsch. Fühlen nach angenehm und unangenehm. Im Gleichnis des Töpfers ist Jahwe, der Grosse Vater, das Mass aller Dinge, er ist Herrscher, Richter. Seine Probleme und Mängel projiziert er auf das Weibliche, im Gleichnis macht er für seinen Missgriff als Töpfer das Volk Israel verantwortlich. Da stört es ihm, dass das Volk auch andere Götter verehrt. Er reagiert also wie ein Kind, das die Mutter mit anderen Kindern teilen muss. Um sein Überlegenheitsanspruch zu halten, muss er die Grosse Mutter laufend entwerten, es ist ja bloss eine tote Mater-ie. Aber so tot, wie er sie haben will, ist sie gar nicht. Im Gegenteil, «der Ton» entpuppt sich als quick lebendiges Volk, das lieber seinen eigenen Regeln folgt.
Wie wirkt sich nun diese archetypische Konstellation auf den europäischen Christenmenschen aus? - Der Psychoanalytiker Horst E. Richter20 zeigt anhand eines Kindes, das mit der Zeit den Eltern nicht mehr traut. Dieses Misstrauen verursacht im Kinde Angst. Um diese Angst zu meistern, muss das Kind alles unter Kontrolle bekommen. Gleichzeitig entwickelt es um seine Person Allmachts-Phantasien. Ähnlich ist es dem europäischen Menschen ergangen. Im Mittelalter befand er sich in der Geborgenheit Gottes. Doch das Misstrauen gegenüber Gott wuchs, nicht nur aus Angst, von Gott nicht genügend gehalten zu werden, sondern auch aus Sorge vor dem bösen, strafenden Gott. Diese Sorge wurde genährt durch die Prädestinationslehre Augustins, nach der niemand gewiss sein kann, ob er erlöst werde oder für die Erbsünde büssen müsse. Der Konflikt zwingt den Menschen, sich mit Gott zu identifizieren, um dem Problem auszuweichen. Er tritt an Stelle Gottes und reagiert entsprechen: Gott = Mann = Allmächtig, Natur = Frau = willenlose Masse21. Dieses Muster drückt C. G. Jung auf seine Art aus: Der (menschliche) Geist dringt tief in die Natur ein. In unserem Bewusstsein ist die Natur entgöttert und entseelt. (S. 103f.) – Das heisst doch, Natur ist tote Mater-ie. Doch beim näheren zusehen ist Natur eine quick lebendige Grösse mit Tieren und Pflanzen. Erst durch unser rücksichtsloses Verhalten werden diese Welten zerstört, zur toten Materie, indem wir das archetypisches Bild, das wir in uns tragen, auf die Natur aussen projizieren.
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Hinweise
- Sie war also 3 Jahre jünger als C. G. Jung
- Miss Miller schreibt auf Französisch, in «Symbole der Wandlung» meistens auf Deutsch übersetzt. Ihre Schrift steht mir, wenn überhaupt, auf Englisch zur Verfügung
- Vgl. Othmar Keel, Jahwes Entgegnung an Ijob, S. 127ff., Behemoth Plural von «behemah»/«grosses Tier», meist als «Nilpferd» übersetzt
- NZZ (Neue Zürcher Zeitung), 15.10.2022, «Wie ein Missbrauchsskandal die ultraorthodoxe Gemeinde in Israel für immer verändert hat» von Andrea Spalinger
- Ek: dem Menschen, in dem sich diese Gottesgestalt manifestiert
- «Gottes missbrauchte Dienerinnen» von Eric Quintin und Marie-Piere Raimbault
- Mithras-Kult war ausschliesslich Männern, Soldaten vorbehalten
- Vgl. Marie-Louise von Franz, die Erlösung des Weiblichen im Manne. Der goldene Esel von Apuleius in tiefenpsychologischer Sicht, 1980
- «Pilgervater» in Google, 30.08.2022
- «Inzestuöse Leidenschaft» von Gudrun Mangold, Stuttgarter Zitung, 17.05.2011
- Anm. 63. Die Bekenntnisse 10. Buch, Kp. 8, p. 239
- Karl Kerenyi, Dionysos
- Jolande Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung
- Horst E. Richter, «der Gotteskomplex»
- Vgl. Alfred Adler, «Über den nervösen Charakter»