Die Regression der Libido hat auch einen positiven Aspekt. Denn durch sie kann Energie freigesetzt und in Arbeitskraft umgeleitet werden.
Der Prozess jedoch ist schwierig und geschieht durch monotone Riten. Als Beispiel nimmt er Jagdriten der Watschandi in Westaustralien:
Da tanzen Jäger um ein nacktes Mädchen, bekommt einer der Männer ein erigiertes Glied, darf er nicht an der Jagd (Arbeit) teilnehmen.
C. G. Jung folgert daraus, dass die Jäger während des rituellen Tanzes sich auf ihre bevorstehende Jagd konzentrieren,
indem sie die aufkeimende Energie der Erregung auf das Jagdvorhaben umleiten müssen. Die frei gewordene psychische Energie
wird für die Organisation und den Durchhaltewillen der Jagd benötigt. Als weiteres Beispiel nimmt er das Verhalten von Nomaden, die nur wenige Kinder haben,
weil die Libido zur Bewältigung äusserer Bedrohung nötig ist und vor allem für die Nahrungssuche reichen muss. (S. 174)
Bei den Riten spielt der Rhythmus eine grosse Rolle. Er ist dem Menschen genuin gegeben – Ursache sind die mütterlichen Herztöne, denen der Fötus ständig ausgesetzt ist. -
Jedenfalls weist C. G. Jung auf das rhythmische Saugen in frühkindlicher Phase und auf das rhythmisch lustvollen Strampeln hin.
Mit der Zeit gehen diese lustvollen Äusserungen in sexuelle Bewegungen über. Das heisst, Libido, die ursprünglich an die Nahrungsaufnahme gebunden war,
wird jetzt in sexuelle geleitet. Dabei bleibt ein ursprünglicher Bezug von Essen zu Sexualität bestehen,
wenn etwa Vagina mit Mund verglichen wird, oder wenn es heisst «essen ist wie Sex».
C. G. setzt nun Rhythmus mit «Bohren» und «Reiben» in Verbindung. Dabei beschreibt er eine psychisch kranke Frau, die sich in erregtem Zustand sexuellen Handlungen hingab
und mit dem Zeigefinger rhythmisch an der Schläfe bohrte. Später konnte sie sich nicht mehr an ihr Handeln erinnern. Das Verhalten ist also spontan und unbewusst.
C. G. Jung fragt sich nun, wie «bohren» in der Kulturgeschichte der Menschheit zu betrachten sei.
Denn im Verhalten der Frau treten merkliche Symptome einer archaischen Psychologie hervor. Er schreibt:
Daraus gehen alle jene zahlreichen Berührungen mit mythologischen Produkten hervor,
und was wir für originelle und individuelle Schöpfungen halten, sind sehr oft nichts anderes als Bildungen, die denen der Vorzeit zu vergleichen sind (S. 183).
Auch in diesem Beispiel vermischen sich in der Regression die kleinkindliche Phase mit wiederbelebten Spuren der Geschichte.
Sigmund Freud geht davon aus, dass sexueller Triebverzicht entsteht, wenn in archaischen Gesellschaften das übermächtig ältere Männchen die jüngeren nicht an die Weibchen lässt.
C. G. Jung ergänzt wohl etwas spöttisch: für die Weibchen sei es die Matrone, die über die Töchter wacht (S. 194).
C. G. Jung zweifelt an dieser These und schreibt: die energetische Spannung innerhalb einer primitiven Gruppe darf nie grösser sein als der Kampf ums Dasein,
sonst würde die Gruppe unverzüglich untergehen. So sieht er den Triebverzicht weniger innerhalb der Gruppe als vielmehr in der Aussenwelt. Denn der Frühmensch ist ständig
auf Nahrungssuche oder feindlichen Gruppen ausgeliefert: Um den Hunger zu stillen und den Proteinmangel zu beheben, muss der Frühmensch und der Primitive auf die Jagd.
Zur Jagd benötigt er Wille, Entschlossenheit und Ausdauer. Das heisst, er benötigt psychische Energie. Und diese Energie erhält er aus dem Sexualtrieb, der ihm stets zur Verfügung steht.
Als Beispiel nimmt C. G. Jung wieder den Aborigines-Stamm an der Westküste und zitiert Friedrich von Hellwald :
«Lightning Feather Spirit Family», pinterest.ch
Einzelne Stämme, wie die Watschandi am Murchisonstrome in Westaustralien, feiern dann ein grosses Fest,
das «Kaoro», das in Orgien ausartet. Die Männer umtanzen höchst unflätig eine Grube, die Gebüsch umgiebt, springen mit geschwungenen Speeren und wilden,
leidenschaftlichen Gebärden, welche ihre erregte Sinnlichkeit verraten, umher und stossen die Speere in die Grube unter Absingung des Liedes:
Pulli nira, pulli nira, Pulli nira, wataka
Anm. 261 : Non fossa, non fossa, Non fossa, sed cunnus
Nicht ein Graben, kein Graben, ist ein Graben nicht, aber die Vulva
Im Ritus gelangt die Regression der Libido in die frühkindliche Phase, die geprägt ist von der Abhängigkeit der Mutter.
Der einzelne Jäger wird damit mit der eigenen Mutter konfrontiert und gleichzeitig mit dem Tabu des Inzests. Um dem Stau dieser inzestuösen Situation zu entweichen,
wird sie im besten Falle als psychische Energie gegen alle Mühen und Hindernisse des Jagens eingesetzt. - Mit der Wandlung von einer Energieform in die andere,
bleibt aber der Charakter der ursprünglichen Energie an der neuen haften. So erinnert der Tanz der Aborigines an einen Sexualakt, ist aber eine magische Handlung (S. 201f.).
Beim rituell hergestellten sexuellen Triebverzicht handelt es sich um das Verbot des Inzests. Um dieser Schranke zu entgehen, ist beim Frühmenschen und Primitiven die Kusin-Kusine-Heirat weit verbreitet.
Die Gruppe gewinnt (dadurch) innere Verfestigung,
Ausbreitungsmöglichkeit und damit grössere Sicherheit. (S. 194)
Doch es sind nicht nur die äusseren Gefahren des Daseins, die den Primitiven in Angst und Schrecken versetzen, sondern noch viel mehr die innere Wirklichkeit:
das heisst die Welt der Träume, Totengeister, Dämonen, Götter und last but not least der Zauberer und die Hexen,
obschon unser Rationalismus diese Angstquelle dadurch zu verstopfen glaubt, dass er auf deren Unwirklichkeit hinweist. Es handelt sich aber um innere psychische Wirklichkeiten,
deren irrationaler Natur mit Vernunftsgründen nicht beizukommen ist.
Australische Eingeborene haben durch Kontakt mit der Zivilisation ihren religiösen Glauben verloren. Dieser Stamm zählt nur noch ein paar hundert Menschen, Bild aus «der Mensch und seine Symbole», S. 95
So kann der westliche Mensch zwar versuchen, die Eingeborenen in die Moderne zu führen. Doch die allgegenwärtige Trinksucht, die moralische Verlotterung und die Hoffnungslosigkeit,
der die Aborigines im 20. Jahrhundert ausgesetzt waren, zeigen, dass die westliche Sicht der Dinge nicht den psychischen Realitäten der Einheimischen entspricht.
Und folgert daraus:
Es ist eine psychische Wirklichkeit, genau so unerbittlich und so unüberwindlich wie die Aussenwelt,
auch ebenso nützlich und hilfreich wie erstere, wenn man die Mittel und Wege kennt, die Gefahren zu vermeiden und die Schätze zu heben. (S. 198f.)