'Symbole der Wandlung'

von C. G. Jung, kommentiert von Esther Keller-Stocker

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6. Über die Libido

Auf Seite 170-215 beschreibt C. G. Jung, was er unter Libido versteht, nämlich die «Lebensenergie», die dem Menschen zur Verfügung steht. Zunächst geht er auf das Symbol der Sonne als adäquateste Seelenbild um die göttliche Energie, sozusagen die absolute Lebensenergie darzustellen. Die Sonne symbolisiert die vollkommene Gestalt der Libido, ist dem absolutem Feuer gleich. Er setzt der zeugenden Kraft des Vater- und Schöpfergottes gleich. - Die «Sonne» kann aber auch weiblich verstanden werden, was er aber nicht kommentiert.

Ein interessantes Thema ist die Regression der Libido: Anhand von Beispielen neurotischer und schizophrener Patienten zeigt er, wie in der Regression frühkindliche Phasen und längst vergangene Weltanschauuen belebt werden. Die Regression der Libido hat aber noch eine andere, wichtige Funktion, die Umleitung von Triebenergie in Arbeitsenergie. Der Prozess der Umwandlung ist höchst mühsam und von Frühmenschen und Naturvölkern in Riten bewerkstelligt, wobei sie sexuelle Energie in Jagdenergie umleiten. Dasselbe Muster sieht er im ‘Feuerbohren’, wobei ein Holzstab auf einem anderen gerieben wird, bis Feuer entsteht. Die Regression der Libido belebt frühkindliche Phase, wo Mund, Essen aber auch Sprache eine grosse Bedeutung spielt. In der Mythologie wird dann die Assoziation von Mund und Sprache mit Feuer als Ausdruck der Libido assoziiert und auf das Gott projiziert. Er erschafft im Feuer die Welt und den Mensch erschafft und zerstört sie. Anhand von Australien zeige ich dann, wie unser kollektiv destruktive Schatten durch Feuer und Energie unsere Erde zerstört.

6.1.Symbol der Sonne

C. G. Jung zeigt, wie das Symbol der Sonne die zeugende Kraft des Vater- und Schöpfergottes manifestiert und dessen ambivalenten Charakter von gut und böse, von Gott und Luzifer, die aber beide letztlich schöpferisch seien. Dabei entgeht ihm, dass «die Sonne» auch als weiblich sein kann, wie etwa sein Beispiel von Dr. Faust zeigt.

Die Ambivalenz des Symbols ist geprägt von der konkreten Erfahrung: So wärmt sie Sonne je nach Klima oder Jahreszeit angenehm oder brennt vom Himmel herab. Sie scheint allen Menschen, auf Gerechte und Ungerechte und lässt nützliche wie schädliche Lebewesen wachsen. Daraus folgert C. G. Jung:

Die Sonne ist daher geeignet, den sichtbaren Gott dieser Welt darzustellen, das heisst die treibende Kraft unserer eigenen Seele, die wir Libido nennen und deren Wesen es ist, Nützliches und Schädliches, Gutes und Böses hervorgehen zu lassen. (S. 158)

Er verweist auf Mystiker, die in den Tiefen ihres Wesens ihren eigenen Lebenswillen finden, die Energie- und Lebensquelle in Gestalt der Sonne dem Allschöpfer, zu dem C. G. Jung meint:

Der mächtige Gott, der Sonnengleiche, ist in jedem, und wer ihn kennt, ist unsterblich. (S. 159)

rudra, a storm god

aus wikimedia: Rudra, a storm god and embodiment of wildness and unpredictable danger

Als Beispiel nimmt er den indischen Rudra, der in der Mitte der menschlichen Seele wohne. Rudra sei der Schöpfer und Aufrechterhalter der Götter, der grosse Seher, der Allherr. In all seiner Mächtigkeit ist Rudra so klein wie ein Däumling, in seiner Energie einer Flamme ohne Rauch vergleichbar. Inmitten des Selbst ist ER immer derselbe, Herr der Vergangenheit und der Zukunft (S. 160).

Zur Gestalt des Däumlings kommt er dann auf die (idäischen) Daktylen («Finger») und die Kabiren («die Grossen», «die Mächtigen») von Samothrake zu sprechen. Sie sind Bergleute und Schmiede und leben im Verborgenen, im Dunkeln, im Mutterschoss der Erde. Demnach sind sie auch Diener der grossen Erd- und Muttergöttin. In einem Nebensatz erwähnt C. G. Jung, dass es die Erdgöttin war, die den Kybelen und Daktylen die Schmiedekunst gelehrt hatte. Dann betont C. G. Jung, dass diese mächtigen Unterweltsgötter in Däumlingsgestalt die ersten Weisen und Lehrer der Menschen waren.

weibliche und männliche Kabiren

hier ein weiblicher und zwei männliche Kabiren

C. G. Jung assoziiert Sonne mit Grossen Götter, Däumling, Bergleute, Schmiede, Unterweltsgötter, Mutter- und Erdschoss.

Obwohl es auch weibliche Kabiren gab, oder der indische Rudra sowohl männlich als auch weiblich ist, liegt sein Fokus stets auf den männlichen Aspekt dieser Gestalten. So haben die Däumlinge einen engen Bezug zum Phallus. Und so wie die Kabiren und Daktylen im Erdeninneren wirken, entfaltet auch der Phallus im Verborgenen seine Zeugungskraft, dazu gehört auch der geheimnisvolle Schlüssel, den Mephisto dem Faust gab, der ihm den Zugang ins «Reich der Mütter» weist. Im «Reich der Mütter» sieht C. G. Jung

eine Beziehung zur Gebärmutter, zur Matrix, die das Unbewusste häufig in seinem plastisch-schaffenden Aspekt symbolisiert (S. 162).

Mit dem Schlüssel von Mephisto will C. G. Jung zeigen, wie die negativ göttliche Kraft im Verborgenen schöpferisch tätig ist:

Ein Teil von jener Kraft, der stets das Böse will, und stets das Gute schafft (I. Teil, p. 162)

Die Ambivalenz Gottes sieht C. G. Jung im Sonnenlauf: am Tageshimmel als Manifestation des Schöpfergottes, während sie in der Nacht, im Dunkeln des Unbewussten als negativen Aspekt Gottes erscheint, in Gestalt des Luzifers («Lichtbringer»), des Teufels oder Mephistos.

6.2. Neurotische Weltbilder

C. G. Jung versteht unter ‘Libido’ die gesamte Lebensenergie des Menschen. Dies im Gegensatz zu S. Freud, der in erster Linie an den Sexualtrieb denkt. Doch auch in den Beispielen von C.G. spielt Sexualität eine grosse Rolle. Zunächst erläutert er «Libido anhand einer Neurose. Er stellt fest, dass ein Neurotiker oder ein Schizophrener wenig Interesse an Sexualität hat. Überhaupt interessiert er sich kaum für die äussere Wirklichkeit und passt sich auch nicht sonderlich an. Im Gegenteil, er zieht sich zurück und belebt vergangene Kulturstufen, greift auf Aberglauben und Weltsichten, die heute keine Gültigkeit mehr haben, aber in einer früheren Kultur Realität waren.

hexen

Bildrätsel aus der Lokalzeitung Horgen, ca. 2010

Als Beispiel erwähnt er einen Mann, der mit Pfeil und Bogen hantiert, obwohl er das Maschinengewehr nehmen könnte. – Würde man diesen Vergleich auf eine Frau übertragen, hiesse das wohl: eine Neurotikerin reinigt den Fussboden mit dem Besen, obwohl sie den Staubsauger nehmen könnte. – Oder ein Student, der zwar genau weiss, dass die Erde rund ist und um die Sonne kreist, denkt sich die Erde flach, über die die Sonne wandert. Interessant ist auch die Patientin, die Alkohol wie in archaischen Ackerkulturen als «Samenerguss» betrachtete. (S. 179f.). Die primäre Ursache einer Neurose ist der Charakter eines Patienten und sein soziales Umfeld. Doch bei den Neurosen geht es nie um wirklichen Realitätsverlust, sondern nur um Verfälschung der Wirklichkeit. Bei der Schizophrenie ist Realität aber schon in bedeutendem Mass verloren gegangen.

Bei seinen Erläuterungen irritiert mich, wie er Miss Miller behandelt. C. G. Jung diagnostiziert bei ihr eine mögliche Schizophrenie, d.h. sie hätte wenig Interesse an Sexualität. Trotzdem sieht er bei ihr nicht gelebte Sexualität als Ursache ihrer Krankheit. Auch müsste die Disposition der Eltern und ihr soziales Umfeld eine wichtige Rolle spielen. Doch ihren Hintergrund kennt C. G. Jung nicht, auch interessiert er sich nicht dafür.

Dann kommt er auf die Regression zu sprechen: In einer Krisensituation kommt die Libido zu einem Stillstand, regrediert in die frühkindliche Phase und darüber hinaus ins Unbewusste. Da belebt sie unbewusste Inhalte. Das gilt nicht nur für den Einzelnen sondern auch für ein Kollektiv. Es ist eine psychische Epidemie, die ganze Völker erfassen können. Dabei denkt er an die Hexenverfolgung und an die beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert. C. G. Jung vergleicht den modernen Menschen mit dem Primitiven. Er meint, der Frühmensch oder der Primitive haben in Krisenzeiten dem modernen Menschen einiges voraus. Denn sie wissen um die Gefahr, wenn da plötzlich Geister und Dämonen auftauchen, Hexen oder Zauberer. Sie wissen, dass das gefährlich ist, während das moderne Bewusstsein solche Erscheinungen als dummen Aberglauben wegsteckt. Wenn das menschliche Bewusstsein aber keinen adäquaten Ausdruck oder keine adäquaten Bilder hat, um die Bedrohung von innen wahrzunehmen und zu gestalten, steigt der psychische Druck und ehe man sich versieht, ist die von Menschen verursachte Katastrophe da. – Aktuell sehe ich bei einer solche Katastrophe an den von uns verursachten Klimawandel.

6.3. Regression, Ritus, Inzest

libido

Die Regression der Libido hat auch einen positiven Aspekt. Denn durch sie kann Energie freigesetzt und in Arbeitskraft umgeleitet werden. Der Prozess jedoch ist schwierig und geschieht durch monotone Riten. Als Beispiel nimmt er Jagdriten der Watschandi in Westaustralien: Da tanzen Jäger um ein nacktes Mädchen, bekommt einer der Männer ein erigiertes Glied, darf er nicht an der Jagd (Arbeit) teilnehmen. C. G. Jung folgert daraus, dass die Jäger während des rituellen Tanzes sich auf ihre bevorstehende Jagd konzentrieren, indem sie die aufkeimende Energie der Erregung auf das Jagdvorhaben umleiten müssen. Die frei gewordene psychische Energie wird für die Organisation und den Durchhaltewillen der Jagd benötigt. Als weiteres Beispiel nimmt er das Verhalten von Nomaden, die nur wenige Kinder haben, weil die Libido zur Bewältigung äusserer Bedrohung nötig ist und vor allem für die Nahrungssuche reichen muss. (S. 174)

Bei den Riten spielt der Rhythmus eine grosse Rolle. Er ist dem Menschen genuin gegeben – Ursache sind die mütterlichen Herztöne, denen der Fötus ständig ausgesetzt ist. - Jedenfalls weist C. G. Jung auf das rhythmische Saugen in frühkindlicher Phase und auf das rhythmisch lustvollen Strampeln hin. Mit der Zeit gehen diese lustvollen Äusserungen in sexuelle Bewegungen über. Das heisst, Libido, die ursprünglich an die Nahrungsaufnahme gebunden war, wird jetzt in sexuelle geleitet. Dabei bleibt ein ursprünglicher Bezug von Essen zu Sexualität bestehen, wenn etwa Vagina mit Mund verglichen wird, oder wenn es heisst «essen ist wie Sex».

C. G. setzt nun Rhythmus mit «Bohren» und «Reiben» in Verbindung. Dabei beschreibt er eine psychisch kranke Frau, die sich in erregtem Zustand sexuellen Handlungen hingab und mit dem Zeigefinger rhythmisch an der Schläfe bohrte. Später konnte sie sich nicht mehr an ihr Handeln erinnern. Das Verhalten ist also spontan und unbewusst. C. G. Jung fragt sich nun, wie «bohren» in der Kulturgeschichte der Menschheit zu betrachten sei. Denn im Verhalten der Frau treten merkliche Symptome einer archaischen Psychologie hervor. Er schreibt:

Ich - Unbewusste

Daraus gehen alle jene zahlreichen Berührungen mit mythologischen Produkten hervor, und was wir für originelle und individuelle Schöpfungen halten, sind sehr oft nichts anderes als Bildungen, die denen der Vorzeit zu vergleichen sind (S. 183).

Auch in diesem Beispiel vermischen sich in der Regression die kleinkindliche Phase mit wiederbelebten Spuren der Geschichte.

Sigmund Freud geht davon aus, dass sexueller Triebverzicht entsteht, wenn in archaischen Gesellschaften das übermächtig ältere Männchen die jüngeren nicht an die Weibchen lässt. C. G. Jung ergänzt wohl etwas spöttisch: für die Weibchen sei es die Matrone, die über die Töchter wacht (S. 194).

C. G. Jung zweifelt an dieser These und schreibt: die energetische Spannung innerhalb einer primitiven Gruppe darf nie grösser sein als der Kampf ums Dasein, sonst würde die Gruppe unverzüglich untergehen. So sieht er den Triebverzicht weniger innerhalb der Gruppe als vielmehr in der Aussenwelt. Denn der Frühmensch ist ständig auf Nahrungssuche oder feindlichen Gruppen ausgeliefert: Um den Hunger zu stillen und den Proteinmangel zu beheben, muss der Frühmensch und der Primitive auf die Jagd. Zur Jagd benötigt er Wille, Entschlossenheit und Ausdauer. Das heisst, er benötigt psychische Energie. Und diese Energie erhält er aus dem Sexualtrieb, der ihm stets zur Verfügung steht. Als Beispiel nimmt C. G. Jung wieder den Aborigines-Stamm an der Westküste und zitiert Friedrich von Hellwald :

Lightning Feather Spriti Family

«Lightning Feather Spirit Family», pinterest.ch

Einzelne Stämme, wie die Watschandi am Murchisonstrome in Westaustralien, feiern dann ein grosses Fest, das «Kaoro», das in Orgien ausartet. Die Männer umtanzen höchst unflätig eine Grube, die Gebüsch umgiebt, springen mit geschwungenen Speeren und wilden, leidenschaftlichen Gebärden, welche ihre erregte Sinnlichkeit verraten, umher und stossen die Speere in die Grube unter Absingung des Liedes:

Pulli nira, pulli nira, Pulli nira, wataka
Anm. 261 : Non fossa, non fossa, Non fossa, sed cunnus
Nicht ein Graben, kein Graben, ist ein Graben nicht, aber die Vulva

regression Jagd

Im Ritus gelangt die Regression der Libido in die frühkindliche Phase, die geprägt ist von der Abhängigkeit der Mutter. Der einzelne Jäger wird damit mit der eigenen Mutter konfrontiert und gleichzeitig mit dem Tabu des Inzests. Um dem Stau dieser inzestuösen Situation zu entweichen, wird sie im besten Falle als psychische Energie gegen alle Mühen und Hindernisse des Jagens eingesetzt. - Mit der Wandlung von einer Energieform in die andere, bleibt aber der Charakter der ursprünglichen Energie an der neuen haften. So erinnert der Tanz der Aborigines an einen Sexualakt, ist aber eine magische Handlung (S. 201f.).

Beim rituell hergestellten sexuellen Triebverzicht handelt es sich um das Verbot des Inzests. Um dieser Schranke zu entgehen, ist beim Frühmenschen und Primitiven die Kusin-Kusine-Heirat weit verbreitet.

Die Gruppe gewinnt (dadurch) innere Verfestigung, Ausbreitungsmöglichkeit und damit grössere Sicherheit. (S. 194)

Doch es sind nicht nur die äusseren Gefahren des Daseins, die den Primitiven in Angst und Schrecken versetzen, sondern noch viel mehr die innere Wirklichkeit:

das heisst die Welt der Träume, Totengeister, Dämonen, Götter und last but not least der Zauberer und die Hexen, obschon unser Rationalismus diese Angstquelle dadurch zu verstopfen glaubt, dass er auf deren Unwirklichkeit hinweist. Es handelt sich aber um innere psychische Wirklichkeiten, deren irrationaler Natur mit Vernunftsgründen nicht beizukommen ist.

Aborigines

Australische Eingeborene haben durch Kontakt mit der Zivilisation ihren religiösen Glauben verloren. Dieser Stamm zählt nur noch ein paar hundert Menschen, Bild aus «der Mensch und seine Symbole», S. 95

So kann der westliche Mensch zwar versuchen, die Eingeborenen in die Moderne zu führen. Doch die allgegenwärtige Trinksucht, die moralische Verlotterung und die Hoffnungslosigkeit, der die Aborigines im 20. Jahrhundert ausgesetzt waren, zeigen, dass die westliche Sicht der Dinge nicht den psychischen Realitäten der Einheimischen entspricht.

Und folgert daraus:

Es ist eine psychische Wirklichkeit, genau so unerbittlich und so unüberwindlich wie die Aussenwelt, auch ebenso nützlich und hilfreich wie erstere, wenn man die Mittel und Wege kennt, die Gefahren zu vermeiden und die Schätze zu heben. (S. 198f.)