'Symbole der Wandlung'

von C. G. Jung, kommentiert von Esther Keller-Stocker

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5. 'Himmel und Erde'

Bei seinem Kommentar zur Erzählung von Lord Byron geht C. G. Jung vom Gedicht „Motte und Sonne» aus. Das Gedicht hatte Miss Miller aufgrund eines Erlebnisses im Zug von Genf nach Paris geschrieben: Wie bereits erwähnt, sass sie nachts im Abteil und beobachtete, wie eine Motte um das spärliche Licht einer Lampe flatterte, bis sie in der Hitze der Glühlampe verbrannte. Dabei beschlich Miss Miller die Sehnsucht nach dem absoluten Licht, nach der Herrlichkeit Gottes. Dies will sie für einen Augenblick erhaschen, um dann zu sterben wie die Motte an der Glühbirne, oder wie Myriaden von Motten, Myriaden von Menschen, die nach dem Licht streben und das gleiche Schicksal erfasst.

C. G. Jung sieht in diesem Vergleich eine Blockade der Libido von Miss Miller, weil sie ihre Sexualität nicht auslebt. Ihre Libido regrediert und belebt das Bild Gottes oder genauer das des Sonnenhelden, «den ewig jugendlich schönen, feuerlockigen und strahlengekrönten Sonnenhelden», der aber für die Sterblichen unerreichbar ist: Der Sonnenheld wandelt um die Erde, lässt dem Tag die Nacht folgen, dem Sommer den Winter, dem Leben den Tod. Und immer wieder ersteht er in jugendlicher Pracht und leuchtet neuen Generationen. Es ist der Sonnenheld, der in der Antike als sterbender und auferstehender Gott in den Gestalten Osiris, Tammuz, Adonis und Christus tief verankert war.

Ebenso ist das sehnsüchtige Begehren nach dieser göttlichen Erscheinung Feuer, das sowohl wohltätige wie auch zerstörerische Kräfte entwickelt. Es flösst dem Menschen Angst ein und bringt Schicksale hervor, die Unwiderrufliches schaffen – Ja, das ist so! Und in einer patriarchalen Gesellschaft tragen häufig Frauen die Folgen eines solchen unausweichlichen Schicksals. Dies zeigt C. G. Jung am Schicksal Margarethes in «Faust», die in ihrer Not ihr Kind und sich selber tötet. Aber das interessiert C. G. Jung nicht, sondern vielmehr wie Faust, ein von Begehren verzehrter Mann vom Mörder zum grossen Heiler und Retter aufsteigt, während Margarethe froh sein muss, wenigstens im Tode von ihren Sünden freigesprochen Breeze zu werden.

«Sprint Breeze» von William Adolphe Bouguereau, aus Pinterest

Miss Miller selbst erwähnt in ihren Notizen das Stück «Himmel und Erde» von Lord Byron und sieht darin Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Gedicht. Sie schreibt:

Ich hatte eine Auswahl von Stücken Byrons gelesen, die mir sehr gefielen und eindrücklich blieben. Übrigens ist der Rhythmus meiner zwei letzten Verse «for I, the source…» und dem zweier Byronschen Verse sehr ähnlich: «Now let me die as I have lived in faith. Nor tremble tho’ the Universe should quake!»

C.G. Jung hält fest, dass sich mit diesem Satz die Todesphantasie von Miss Miller bestätigt, Todesphantasie aufgrund nicht gelebter Sexualität. – Aber kommt da nicht noch ein anderer Aspekt hinzu? Macht sich mit ihrer Notiz nicht auch eine Resignation breit, im Studium ständig von männlichen Leistungen konfrontiert und entwertet zu werden? - Und was macht C. G. Jung? Er fixiert sie auf ihre unerfüllte Sexualität, obwohl er später im Buch darauf hinweist, dass Neurotiker und Schizophrene wenig Interessen an Sexualität zeigen (S. 175). Aber Miss Miller interessiert C. G. Jung eigentlich gar nicht, sondern nur ihre Notizen, die ihm als Projektionsfläche dienen, um daran seine eigene Psyche aufzuarbeiten, und gleichzeitig ihr weibliches Ich zu entwerten.

Was das Gedicht «Himmel und Erde» betrifft, so erzählt Lord Byron die biblische Sintflut-Erzählung (I. Mose 6-9) nach und kritisiert darin unser christlich-patriarchale Religion aufs schärfste. C. G. Jung geht aber gar nicht auf das byronsche Anliegen ein. - Man hat den Eindruck, er hat «Himmel und Erde» gar nicht gelesen.

5.1. Interpretation: I. Mose 6,1-5

Erster Mose 6,1-5 beginnt:

Als sich aber die Menschen (Adam) auf der Oberfläche der Erde (Adamah)
zu mehren begannen
und ihnen Töchter geboren wurden,
sahen die Gottessöhne (Bene ha-Elohim, wie schön die Töchter der Menschen waren, und sie nahmen sich alle, die ihnen gefielen, zu Frauen (V. 1-2).

Kurz wird hier die rasante Vermehrung des Menschen auf der Oberfläche der Erde erwähnt (V. 1a). Da besteht eine enge Verbindung von Mensch/Mann (Adam) und der Erde (ha-Adamah), denn Adam (Mensch/Mann) ist aus Staub von der Erde (Adamah) gemacht (I. Mose, 2,7) und kehrt als Staub wieder zu ihr zurück (I. Mose 3,19). Auffällig in I. Mose 6,1 ist die Bezeichnung אךמה פני für «Oberfläche der Erde», denn אךמה פני kann auch «Angesicht der Erde» bedeuten. Es schwingt hier die Vorstellung von der Muttergöttin Erde mit, die im Text entmythologisiert bloss noch Erde ist. Diese kurze Einleitung orientiert sich am altorientalischen Atra(m)hasis-Epos: Da wurden Menschen aus den göttlichen Mutterleiber (Šassuratu) gemacht, damit sie für die Göttern arbeiten. Auch hier vermehrten sie sich stark und verursachten viel Lärm, was die Götter störte. Dies ist der Grund, weshalb die Götter die Menschen in der Sintflut vernichtet hatten.

Nach I. Mose 6,1a folgt nach der kurzen Notiz von der Vermehrung der Menschen die Geburten der Töchter: «und ihnen Töchter geboren wurden». Da in V. 1a von Adam (Mensch/Mann) im Singular die Rede ist, es in V. 1b aber im Plural (ihnen) weitergeht, dürfte der alttestamentliche Autor J den zweiten Satz aus einer anderen Geschichte eingefügt haben. Wer «ihnen» (den Männern) die Mädchen geboren hatte, wird nicht gesagt, aber im jetzigen Text wohl am ehesten die Erde (Adamah). - Da sahen die Söhne Gottes, dass die Töchter schön waren und nahmen sie sich zu Frauen (V. 2). Nach Claus Westermann geht es bei den Göttersöhnen nicht um überirdische Mächte sondern um mächtige Männer wie etwa der ägyptische Pharao (I. Mose 12), der aufgrund seiner Macht die schöne Sara nimmt.

In I. Mose 6, 3 tritt unvermittelt Jhwh auf:

Und Jhwh sprach:
«Nicht soll mein Geist für immer im Menschen (Adam) bleiben,
da sie doch Fleisch sind. Ihre Lebenszeit soll 120 Jahre betragen. (V. 3).

Der Vers passt nicht zu I. Mose 6,1f., wird als Strafrede gegen die Hybris der Menschen verstanden. Claus Westermann schreibt, dass die Göttersöhne durch die Ehen mit den irdischen Töchtern sich ganz auf die Seite der Menschheit stellten (wie Prometheus) und eine Überhöhung des menschlichen Geschlechts erstrebten, gegen die der Schöpfer der Menschheit einschreiten musste . - Hier werden die Göttersöhne also wieder als himmlische Wesen betrachtet.

Der alttestamentliche Redaktor J kommt in V. 4 auf die «Nephilim» zu sprechen. Ursprünglich waren die Nephilim mythische Wesen, Halbgötter (S. 510f.). Hier werden sie mit V. 2 verknüpft, die irdischen Töchter haben sie, die Riesen, den Göttersöhnen geboren. Positiv fügt Autor J an: das sind die «Helden der Vorzeit», «berühmte Männer» - Die Nephilims/Riesen sind hier Männer und keine Halbgötter.

In I. Mose 6,5 passiert urplötzlich etwas, mit dem niemand gerechnet hat, Jhwh beschliesst die Menschheit in einer Sintflut zu vernichten. Der Grund:

Der Herr (Jhwh) aber sah, dass die Bosheit des Menschen gross war auf Erden und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens allezeit nur böse war.

Nach Claus Westermann geht es hier nicht um einzelne Taten, sondern um einen Zustand: um die Bosheit im Innerste der menschlichen Seele. Die vorausgehenden Notizen über die Vermehrung des Menschen und der ungleichen Ehen, aus denen Riesen hervorgehen mögen dazu Beispiele sein, auch die Erzählung von Kain und Abel (I. Mose 4) dürfte da mitschwingen. Demnach orientiert sich der altorientalische Theologe J ausschliesslich an den Taten mächtiger Männer, aber alle Menschen werden bestraft. Der alttestamentliche Theologe P fügt noch alle Tiere (V. 7) hinzu, die mit den Menschen ertrinken.

I. Mose 6,1-2.4. zeigt noch eine andere, weibliche Sicht: Im Schema dargestellt:
1. Der Mann/Mensch (Adam) geht aus der Erde (Adamah) hervor,
2. Die Nephilim werden von den Töchtern des Menschen geboren.

Zu 1: In der Sintflut verschwinden nicht nur die Menschen und Tiere in den Fluten sondern auch die Erde/Erdgöttin. Sie ist also genauso vom göttlichen Fluch betroffen. Explizit wird sie bereits in der Schöpfungsgeschichte wegen der Sünde Adams von Gott verflucht (I. Mose 3,17). Doch in der Sintflut verschwindet sie ganz und mit ihr alles Leben. Denn die Sintflut bedeutet den absoluten Stillstand: keine Vermehrung, keine Fruchtbarkeit! Keinen Fortschritt! – Das grossartige Postulat «Gott macht» funktioniert auch nicht! Dann sendet Noah Vögel aus um die Erde/die Erdgöttin zu finden. Während der Rabe unverrichteter Dinge zurückkehrt, findet die Taube, im Alten Orient Begleittier der Liebesgöttin, einen Zweig, und die zweite fand die Erde und kehrte nie wieder zurück. Als dann alle Tiere aus der Arche auf die Erde traten, war die Blockade gelöst. Da kann sie nichts mehr aufhalten: es wird gezeugt und geboren, was das Zeug hält, aber nicht wegen Jhwh sondern wegen Adamah, auf der sie alle herumtrampeln. Auch Jhwh versöhnt sich zum Schluss wohl oder übel mit ihr. So sprach er bei einem Opfer, das ihm dargebracht wurde:

Und Jhwh roch den lieblichen Duft und sprach bei sich selbst:
«Ich will hinfort nicht mehr die Erde um der Menschen willen verfluchen;
denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.
und ich will hinfort nicht mehr alles Lebendige (חי-כל) schlagen, wie ich getan habe.»

Hier wird in «alles Lebendige» (חי-כל) eindeutig klar, dass Autor J nicht bloss die Erde meint sondern die Muttergöttin. Denn in I. Mose 3,20 heisst es:

Und der Mensch nannte seine Frau Eva, denn sie wurde die Mutter allen Lebens (חי-כל) .

In Ḫwjh (Eva) mag das Verb «leben» mitschwingen, ist aber die hebräische Bezeichnung der mächtigen altorientalischen Muttergöttin Chepat/Heba . Sie ist die «Mutter alles Lebens» .

Zu 2: Die Töchter des Menschen werden in I. Mose 6,2 als passive Geschöpfe dargestellt. So werden sie von den «Göttersöhnen» einfach genommen und gebären die Riesen. Sie ähneln der Erde/Erdgöttin, die sich willenlos gestalten lässt. Aber, wenn es ums Bestrafen geht, haften beide für die Taten der Männer.

Im hebräischen Text wird Jhwh ohne Attribut erwähnt. Da steht einfach Jhwh. Doch nach der Septuaginta wird eine enge Beziehung zwischen den Göttersöhnen und Kyrios (Jhwh) sichtbar. Die Göttersöhne sind hier nicht mächtige Männer sondern «Söhne Gottes» («οἱ υἱοὶ τοῦ θεοῦ», LXX: V. 2.4; vgl. Hiob 1-3), und Jhwh ist «κύριος ὁ θεός» (Herr, der Gott, LXX: V. 3.5; hebr. Adonaj = Jhwh Elohim). Und es verwundert nicht, dass auch Er in den biblischen Erzählungen auf Erden wandelt und sich mit irdischen Frauen verbindet (etwa I. Mose 21,1f.).

Sintfluten sind auf der ganzen Welt bezeugt und in Mythen festgehalten, also mit Seelenbilder verbunden und gewertet. In I. Mose 6 ist es Jhwh, der die Menschheit bestraft wegen ihrer Bosheit im Innersten des Herzens. Und er bestraft sie! Bestraft sie mit unvorstellbarer Brutalität. Die Bosheit im Innersten des Menschen verbindet sich also mit der Brutalität Gottes.

In «Himmel und Erde» schildert Lord Byron die Absurdität, wie diese Katastrophe theologisch begründet wird.

5.2. Himmel und Erde, 1. Szene

Die erste Szene von «Himmel und Erde» beginnt im waldigen Kaukasus-Gebirge in der Nacht vor dem Tag der Sintflut. Die beiden Schwestern Anah und Aholibama warten vor dem Zelt ihres schlafenden Vaters auf ihre himmlischen Freunde, auf die Engel Azaziel und Samiasa, die demnächst herabschweben sollen. Anah macht sich Gedanken darüber, ob ihre Liebe zu einem Unsterblichen Schuld bedeutet:

Oh Schwester! Ich lieb‘ Azaziel mehr als … ach so sehr! Was wollt‘ ich sagen! – dieses Herz wird gottlos (d 145).

Worauf Aholibamah entgegnet:

Und ist es gottlos himmlische Naturen zu lieben?

Anah:

Ach, Schwester, ich – ich liebe Gott weniger, seit mich sein Engel liebt. Das kann nicht gut sein. Zwar, ich bin mir nicht Unrechts bewusst, doch fühl‘ ich tausend Ängste, die nicht von Gutem zeugen.

Aholibama hält ihr vor:

Dann vermähl‘ dich einem Sohn des Staubes, - grab und spinn!
Da ist der Japhet, der dich lange liebte, - heirat‘ und bringe Staub zur Welt! (d 145f.)

Zwei Mädchen mit Spindel

Höchster Punkt der Eisenbahnstrecke in der Sardarabadeben, Armenien, junge Mädchen stehen und spinnen, 20. Juni 1925, aus wikimedia.com

Den Garten beackern und mühsam die Wolle zu Faden spinnen und dabei Kinder gebären und aufzuziehen, von denen es in der Bibel heisst: «sie wurden den Menschen geboren» ohne die Mütter zu erwähnen. In einer patriarchalen Gesellschaft ist dies das Los von Myriaden von Frauen. Sie sind so bedeutungslos wie Mücken und Motten.

Im weiteren Gespräch zwischen Angst und Bangen geht es auch um die Frage nach Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Dabei stellt Anah sich vor, wie sie als Sterbliche im Grabe liegt und von ihrem angebeteten Engel in Ewigkeit beweint wird. Doch Aholibama sieht es realistischer: Er wird sich eine andere nehmen! Was Anah grossmütig akzeptieren würde und schwärmt wartend:

Seraph! Auf welchem Sonnenball dein hehrer Glanz auch thronen mag, ob in des Himmels blauen Fernen du wachest mit den sieben Sternen, ob Weltenchöre vor deinem strahlenden Flügelschlag fliehn durch das unbegrenzte All (d 146).

Aber da schweben die Engel Samiasa und Azaziel schon herab.

5.3. Himmel und Erde, 2. Szene

Stammbaum Adam-Japhet

In der zweiten Szene treten Irad und Japhet auf (S. 151). Nach der Bibel sind die beiden Cousins zweiten Grades, und Irad müsste der Bruder der beiden Mädchen sein. Im Gedicht wandert Japhet wie ein Irrer vor dem Zelt Anahs hin und her. Er liebt sie abgöttisch, wird aber von Irad aufgeklärt, dass sie einen anderen liebt. Doch auch wenn sie einen anderen liebte, Japhet will sie retten vor den Fluten, die in Bälde die „Gefallenen“ vernichten werden:

O meine Anah! - In jener Schreckensstunde, welche weit der tiefe Brunnen öffnet, könntest du an diesem Busen ruhn, geborgen vor den Elementen, - diesem Busen der vergeblich schlug für dich, vergeblicher dann schlagen wird für dich – indes der deine … Sie mindestens, o Gott, verschone du! (d 154)

Japhet bezeichnet Anah weiter als rein unter den Gefallenen, als einen Stern im Gewölk (p 155). Dabei belebt er das Bild des geistig Weiblichen, der Sophia, der Weisheit, der unberührten Gottesgebärerin. Sie ist das Licht inmitten des anbrechenden Chaos, das es zu retten gilt. In seiner Vorstellung bricht das Chaos aus dem «tiefen Brunnen» hervor. Der tiefe Brunnen ist ein Symbol der gebärenden und verschlingenden Grossen Mutter. Daraus quillt das Wasser hervor, der «Ozean, das Grab der Erde». Der (Ur)-Ozean ist Seelenbild der archaischen Vollkommenheit, in der alles eins ist.

Japhets Bewusstsein befindet sich in einer Regression. Dabei wird Energie von seinem männlichen Ich abgezogen, aber auch Energie vom numinosen Über-Ich, von Gott dem Allmächtigen, an dem er sich orientiert. An dessen Stelle wird das archetypisch Weibliche belebt, einerseits im Bilde der Anah als irdische Manifestation der Sophia, andererseits in der urtümlichen Form, in der Tiefe des Brunnens, der alles gebärenden und zerstörenden Mutter. Die Energie der Regression belebt aber nicht nur den Archetyp der Grossen Mutter sondern auch das Bild des Ur-Ozeans, die archaische Vollkommenheit, die normalerweise im Schoss der Grossen Mutter verborgen, verschlossen ist und nun unter der Herrschaft des Grossen Vaters in Gestalt Leviathans oder des strafenden Gottes in Erscheinung tritt. Jetzt in der Regression bricht das Chaos hervor und zerstört das mickrige, mückenhafte Ich.

Vampire aus 'the Art of Stephen Gammell'

'Vampire aus 'The Art of Stephen Gammell' aus wikimedia.org

Die Belebung der Bilder des Archetyps der Grossen Mutter lässt ihn magisch zur Höhle gehen, dorthin, wo die bösen Geister hausen. Seine Verzweiflung zwingt ihn unbewusst zur Mutter, zum Ur-Schoss, dem einzigen Ort, wo er Frieden findet, Frieden findet im Tod.

In der weiteren Rede verschiebt Japhet die Angst von der Höhle weg auf die unheimlichen Geister, die im Innern der Erde hausen. So muss er sich nicht mit der Höhle, dem Brunnen oder dem unheimlich mütterlichen Aspekt befassen, sondern mit der Bedrohung, die von den Geistern ausgeht, die aber doch als menschenähnlich erfahren werden.

Während Japhet zur Höhle geht, tauchen Noah und Sem, Vater und Bruder Japhets auf (d 155). Sem berichtet dem Vater Noah, dass Japhet normalerweise nachts das Zelt Anahs umstreicht:

Beduinenzelt

wie eine Taube ihr leeres Nest umflattert,
vielleicht auch geht er durch den Wald zur Höhle, die in das Herz des Ararat sich öffnet. (d 155)

Noah wundert sich. Denn er urteilt, dass das Zelt Anahs ein «schlimmer Ort» sei, wo noch ärgere Wesen hausen als böse Menschen.

Noch immer liebt er die Tochter aus verfluchtem Samen, die er nicht frein kann, wenn sie ihn auch liebte, und sie verschmäht ihn! – Oh ihr Menschenherzen! Dass einer meines Blutes, der Alles weiss, das Schicksal und das Unheil dieser Tage, und dass die Stunde nah ist, so verbotenen Gelüsten fröhnen muss! Zeig mir den Weg; Man muss ihn suchen.

Anah ist die Enkelin Kains, der seinen Bruder Abel getötet hatte, und deshalb gehört sie zu diesen «noch ärgeren Wesen». Aus diesem Grund kann Japhet sie gar nicht heiraten. Noah geht nun Japhet bei der Höhle suchen. Sem warnt ihn aber vor den bösen Geistern, doch Noah fühlt sich als Auserwählter Jehovas beschützt:

Fürchte nicht für mich: Die bösen Mächte haben keine Macht über Jehovas Auserwählte. Komm! (S. 156)

Wie Japhet eilt nun Noah zum «Höllenschlund des Kaukasus», zur Höhle, zur Grossen Mutter, wo Reichtum und Zerstörung nahe beieinander liegen.

Konkret liegen in und um die Schlünde des Kaukasusgebirges Eisenerze, die im Altertum eine industrielle Revolution ausgelöst hatten. Noch im 18. Jh. n. Chr. berichtete ein Engländer über Eisenerze, die noch immer überall herumlagen. Heute bohrt man nach Erdöl und Erdgas. Die Reserven von Erdöl schätzt man auf 200 Milliarden Barrel. Der Kaukasus gehört demnach zu den reichsten Erdöllager der Welt. Andererseits ereignen sich im Kaukasus immer wieder grosse Erdbeben. Das Erdbeben vom 7. Dezember 1988 mit Stärke 7 kostete mehr als 25‘000 Menschen das Leben, rund 20‘000 wurden verletzt und mehr als eine halbe Million Menschen obdachlos.

Katastrophe im Kaukasus 1988

französischer Katastrophenhelfer nach dem Erdbeben
vom 11.12.1988, aus wikimedia.com

Im Gedicht «Himmel und Erde» sieht sich Noah als der Auserwählte Jahwes und vertritt damit die göttliche Ordnung, die patriarchalen Werte von richtig und falsch, gut und böse. Und er sieht in Anah nicht eine eigenständige Person sondern die Enkelin eines Brudermörders. Er nimmt sie in Kollektivhaft, und deshalb wird sie in der Sintflut umkommen.

Im Gedicht «Himmel und Erde» ist Noah der Auserwählte Jahwes und vertritt damit die göttliche Ordnung, die patriarchalen Werte von richtig und falsch, gut und böse. Und er sieht in Anah nicht eine eigenständige Person sondern die Enkelin eines Brudermörders. Er nimmt sie in Kollektivhaft, und deshalb wird sie in der Sintflut umkommen. Damit projiziert Noah als Gerechter seinen Schatten auf die Anderen und interpretiert sie als Gefallene oder wie bei der Familie Anahs als «noch ärgere Wesen als böse Menschen». Die bösen Mächte haben keine Macht über ihn als den Auserwählte. Das heisst, in seiner Überlegenheit ist kein Schattens, dafür wimmelt es in seiner Umgebung von drohenden Geistern als Manifestation nicht verarbeiteter Inhalte.