'Symbole der Wandlung'

von C. G. Jung, kommentiert von Esther Keller-Stocker

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5.4. Himmel und Erde, 3. Szene

Japhet befindet sich nun vor der Höhle im felsigen Gebirge und trauert über die Gegend, die ewig scheint, doch bald in den Fluten versinken wird, und dabei kein erhabener Baum und kein Stein stehen bleibt. Aus den Tiefen der Höhle wird das Wasser hervorbrechen, und statt Löwen werden sich dort Delphine tummeln. Japhet gedenkt all der Menschen, die in den Wasserfluten ihr Grab finden:

Der Mensch – o Menschen! Meine Brüder! Wer wird über eurem weiten Grabe weinen? Ach, warum bin ich besser als ihr seid, dass ich euch überleben soll?

Japhet ringt sich zur Erkenntnis durch, dass er nicht besser ist als sie sondern bloss der Sohn des «Auserwählten Jehovas». Aber alle anderen Myriaden Lebewesen werden ohne Unterschied ins Grab versinken. Hier beginnt eine Umkehr der Werte im Bewusstsein Japhets, die durch das Gespräch mit den Geistern noch verstärkt wird. Diese tauchen nun aus der Höhle hervor und frohlocken:

Frohlockt! - Das verhasste Geschlecht, das sich betrog um Edens hehres Recht, vom Schimmer angelockt des Wissens ohne Macht, versinkt in Nacht und – Tod!

Niemand wird übrig bleiben. Doch Japhet entgegnet den Geistern:

Scary Stories to tell in the Dark Scary Stories to tell in the Dark Scary Stories to tell in the Dark
Scary Stories to tell in the Dark' aus 'The Art of Stephen Gammell'

Mein Vater! – denn der Erde Samen soll nicht untergehn; das Böse nur soll weggefegt werden vom Tageslicht. – Hinweg ihr johlenden Dämonen der Öde! Wer von euch mag noch schauerlich frohlocken, wenn Gott zerstört, vor dem ihr selbst erbebt? – Hinweg von hier! Zurück in eure Klausen.

Gegenüber den Geistern nimmt Japhet zunächst die Meinung seines Vaters ein, doch sie wandelt sich nun mit den Fragen der Geister. So fragt ihn ein Geist: ob die Verschonten nach der Flut bessere Menschen sein werden, glücklichere und zufriedenere? – Nein, sie werden genau die gleichen bleiben, essen, trinken, heiraten und Kriege führen. Im Gegenteil: da auch die Riesenhelden, die Nachkommen der Himmelssöhne und der Erdentöchter nicht mehr sind, werden die Nachkommen Noahs geschwächt aus der Sintflut hervorgehen. Und dann erzählt der Geist, weshalb sie hier sind:

Wir alle liessen in der Himmels Pracht leer unsre Throne stehn und wollten lieber wohnen im Dunkeln hier, als unsre Kumpels einsam dulden sehn. Geh, Wurm! Und zeuge weitere arme Schlucker wie du selbst einer bist – Lebe! Und wenn das vernichtende Wasser brüllt über das, was es getan hat, beneide dann nicht mehr die Riesen-Patriarchen. Verachte deinen Vater als den Überlebenden! Dich selber, weil du sein Sohn bist
(d 160f.*/e 220f.).

Hier ist Noah nur ein Wurm, der sich feige den Fluten entzieht und Schwächlinge zeugt. Auf diesen Vorwurf reagiert Japhet mit patriarchaler Überheblichkeit, spricht von Allmacht, Licht und ewiger Versöhnung, von einer neuen Schöpfung ohne Sünde – wo Hölle, Finsternis sich ins Nichts auflösen:

…. Den dunklen Bann der ewige Wille wird auf ewig lösen, den bangen Traum des Guten und des Bösen, versöhnt mit allen Zeiten, allen Dingen, sie sammelnd unter seiner Allmacht Schwingen, und dann versinkt vor Strömen seines Lichtes die Hölle in Nichts!
Er gibt der ersten Schönheit Glück der neugeborenen Welt zurück, ein unvergänglich Paradies, das nie durch Sünde wird verloren gehen, und Gutes wird durch Teufel selbst geschehn. (d 163)

Die Geister fragen ihn, wann sich dieses Wunder ereignen wird. Japhet antwortet:

Wenn der Erlöser kommt, dass Er uns rette, zuerst in Knechtsgestalt und Leid und dann in Herrlichkeit.

Ein Erlöser, der durch die patriarchale Norm getötet wird, und durch den Tod in Herrlichkeit die patriarchale Norm wieder auferstehen lässt? – Diese Situation hat er hier mit der Sintflut, der Erlöser ist ein Kollektiv, nämlich die «Gefallenen», die Japhet auch „Brüder“(«Fellow-Beings», e 215), nennt.

Erzengel

Erzengel Raphael von Bartolomé Esteban Murillo (1617-1682)

Anah und Aholibama treten mit ihren Engeln zu Japhet. Anah entschuldigt sich schon einmal dafür, dass sie den Engel liebt statt Japhet. Darauf antwortet dieser:

Möge es Gott, der bald nicht mehr vergeben wird! – Denn du wardst schwer versucht (d 167).

Paff! – da hat sie die Patriarchen-Keule! Er gar doch kein Recht hat, darüber zu entscheiden, wen Anah liebt und wen nicht. Das sieht auch Aholibamah so:

Fort in dein Zelt, du frecher Sohn des Noahs.
Wir kennen dich nicht.

Und der Engel Samiasa fragt ihn:

Oh Sohn des Patriarchen, welcher stets aufrichtig war vor Gott, was auch dein Schmerz ist –
Denn Gram und Zorn mischt sich in deinem Wort, - was Leides taten wir dir an?

Japhet:

Was Leides? Der Leiden grösstes! – Doch du redest wahr: Obwohl sie Staub ist, ich war ihrer nie, konnt‘ ihrer nie wert sein. – Anah – lebewohl! Ich sprach dies Wort so oft, - ich spreche es jetzt.

Trotz Abschied liebt er Anah noch und fragt, ob die Engel die schönen Kinder Kains retten können? – Jetzt bricht der Schalk des Dichters hervor, denn Azaziel fragt:

Wovor?

Japhet:

Wie? Ist es so? Ihr wisset auch nicht? – Engel! Engel! Ihr habt teil an Menschensünd‘ und müsst vielleicht die Strafe teilen, oder doch den Gram, der mich erfüllt?

Und Samiasa wundert sich:

Gram? – Nie hab‘ ich geglaubt, dass mir ein Mensch in Rätseln sprechen werde.

Japhet hat den Verdacht, dass die Engel genau so verloren sind wie die Menschheit.

Anah:

Ah! Er (Japhet) spricht von Tod!

Samiasa:

Von Tod zu uns und denen, die uns folgen! Erschiene er nicht voll Gram, ich könnte lächeln.

Samiasa deutet hier an, dass die beiden Mädchen durch die Engel genauso gerettet werden, wie Japhet und Noah durch den Allmächtigen. Doch Japhet versteht das nicht. Er hält fest, dass er die beiden Mädchen retten will vor allem Anah, von der er träumte, sie sei die Tochter Abels, also aus frommen Geschlecht und nicht ein «finsteres Kind Kains».

Aholibamah verteidigt darauf ihren Grossvater Kain:

Er war der Vater unserer Väter, war der erstgeborene, stärkste, tapferste, ausdauerndste; - soll ich für ihn erröten, von wem haben wir unser Dasein? Sieh unser Volk, sieh seine Schönheit, seinen Wuchs und Mut und seiner Tage Anzahl*.

Und greift Japhet wegen der protzigen Arche an und fragt ihn, wer denn die Welt untergehen lässt:

Wie? Dieser Träumer schreckt mit Noahs Arche, das Schreckgespenst, der die Welt verschüchtern soll, auch meine Schwester? Sind wir nicht Geliebte von Engeln? Müssten wir, wenn wir’s nicht wären, an Noah’s Sohn uns klammern, um zu leben? Besser so … Jedoch der Schwärmer träumt den schlimmsten Traum, erzeugt von glühenden Nachtwachen und von hoffnungsloser Liebe* (e 234f.).

Aholibama glaubt nicht an die Sintflut. Wer soll das tun? Darauf antwortet Japhet:

Es ist Gottes Wort: Die Welt, die vor dem Wort ins Leben sprang. Ha! Lächelst du verächtlich?
Frag deinen Seraph, der kein Seraph ist, wenn er es nicht bezeugt (d 172).

Noah tritt auf und fragt Japhet:

Japhet, was hast du zu tun mit «Kindern der Verlorenen»?
Fürchtest du nicht ihr Strafgericht zu teilen?

Nochmals die Patriarchen-Keule, die nun den Sohn trifft. Japhet liebt Anah und weicht jetzt von der Wertung Noahs ab und übernimmt die der Frauen:

Ist es Sünde, Vater, erdgeborene Wesen zu retten?
Siehe, diese sind nicht sündig, da sie Genossenschaft der Engel haben? (S. 172)

Doch Noah wettert drauflos:

Kain flieht vor Jehovas Fluch

Die also sind es, die Gottes Thron verlassen, um Weiber aus dem Stamme Kains zu nehmen, die Söhne Gottes, welche nach der Schönheit der Erdentöchter schauen?

aus «Kain flieht vor Jehovas Fluch» 1880 von Fernand Cormon

Engel Azaziel gibt ihm recht:

Patriarch – Du sagst es. (d 172)

Damit zeigt er seine Überlegenheit! Es ist so! Er gibt dieser Gegebenheit aber eine andere Wertung. Doch Noah wettert weiter:

Wehe, wehe solcher Buhlschaft! Schuf Gott nicht eine Schranke zwischen Himmel und Erde und setzte Grenzen, Art zu Art?

Doch mit diesem Statement hat er sich verhauen, denn Samiasa kontert:

Schuf Gott den Menschen nicht nach seinem Bilde?

Und weiter fragt Samiasa:

Liebt Gott nicht, was er schuf?
Und sollen wir nicht nachahmen, nacheifern seiner Liebe, zu der erschaffnen Liebe? (d 173)

Woraus Noah keine Antwort als die der ewigen Verdammnis weiss.

Da rauscht Erzengel Raphael vom Himmel herab und gebietet den beiden Seraphen, in den Himmel zu kommen zum seligen Chor der erwählten Sieben und Gott zu lieben. Doch Samiasa begegnet dem Raphael:

Raphael! Erster und herrlichster von Gottes Söhnen! Seit wann ist es Verrat für Engel, diese Erde zu verschönen? Die Erde, deren Pfad der Fuss Jehovas selber oft betrat? Die Welt, die Er zum Lieben hat gemacht? (d 174)

Jetzt kommt es aus: Jahwe selber wandelt oft auf der Erde, die er zum Lieben gemacht hatte. Und wenn man da in der Bibel weiterspinnt …. Wie war das mit Sarah und den drei Männern mitten in der Wüste? Jedenfalls heisst es in I. Mose 21,1-2:

Der Herr aber nahm sich Saras an, wie er gesagt hatte, und der Herr tat an Sara, wie er geredet hatte: Sara wurde schwanger und gebar Abraham in seinem Alter einen Sohn, zu der Zeit, die Gott angekündigt hatte.

Jahwe hat Sarah heimgesucht und den Isaak gezeugt, und das Kind dem Abraham untergeschoben. Und gleich danach mit Hagar, die wegen ihrem frechen Mundwerk von Sarah samt ihrem Söhnchen Ismael aus dem Haus verstossen wurde. Erschöpft kam Hagar an einem Brunnen an, und da war er schon und tröstete die Weinenden: zu einem grossen Volk will er Ismael machen! (I. Mose 21,17ff.).

Auch Eli («der Erhabene») hat mit Hannah den Propheten Samuel gezeugt (I. Sam. 1) und der «Fremde auf dem Felde» mit der «Frau Manoahs» den Richter Simson (Ri. 13). Und wie war das mit der Maria im Neuen Testament, die auf Geheiss Gottes vom Engel Gabriel geschwängert wurde (Lk 1,26ff.)?

In Lord Byrons «Himmel und Erde» verteidigt sich Raphael:

Zum Himmel euch zu rufen bin ich hier,
durch Gottes Wort, das ewig teuer mir, doch ist sein Auftrag minder teuer kaum* (d 175/e 241).

Raphael kommt dann auf Satan und Gott zu sprechen:

Unser Bruder Satan ist gefallen! Sein brennender Wille wagte es (dies) zu ertragen statt länger Gott zu dienen. Ihr aber, unbefleckt, schwächer als er, der Mächtigste von allen, bedenkt, wie Gottes Zorn ihn niederstreckte!* (d 176/e 241f.)

Das «Wort Gottes» ist dem Raphael ewig teuer und dies bedeutet, sich der göttlichen Ideologie unterzuordnen. Bei Rebellion wird gedroht mit dem Tod oder der ewigen Verdammnis. Etwas weiter unten sagt Raphael den schwierigen Satz:

Ich liebt‘ ihn (den Satan)! Schön war er! – Oh Himmel! Nur die des Schöpfers - diese Schönheit und diese Kraft (Gottes) war seit jeher wie die eines Satans. Könnte die Stunde, in der er fiel je vergeben werden!* Dieser Wunsch ist gottlos ... (d 176)

Hier geht es um Machtkämpfe und verletzter Männerliebe. Weiter kann Raphael nicht begreifen, warum die beiden Engel sich nicht der Schönheit Gottes erfreuen wollen sondern den Verlockungen der beiden irdischen Frauen erliegen:

Aphrodite

Aphrodite von William Adolphe Bouguereau

Und ihr des Weibes Lockung. – Schön ist sie! Der Schlange Flüstern war so lockend nie als ihre Küsse sind. Der Schlange Raum war nichts als Staub. Sie aber lockt, himmlischem Recht zuwider des Himmels Heerschar auf die Erde nieder.
Flieht! Flieht von hinnen! Ihr sterbet nie! Sie aber werden vernichtet, während ihr mit Schreien den oberen Himmel füllet um den Staub. Eure Trauer wird die Sonne überdauern, die ihm (also dem Staub, d.h. den Mädchen) einst Tag gab (vgl. e 242).

«Schlange – Weib – Staub» und um so was wollen die Engel ewig trauern! Das übersteigt die Phantasie des Erzengels.

Während Aholibamah am Anfang noch vermutete, die Engel werden nach ihrem Tod eine andere Frau lieben, ist sich Raphael gewiss, Samiasa und Azaziel werden diesen Frauen ewig treu bleiben und den Himmel mit ihrem Wehklagen erfüllen.

Aholibamah hört nun das Rauschen des Ozeans, erkennt die Gefahr und bittet die Engel zu fliehen während sie tapfer ihrem Ende entgegensieht:

Flieht, Seraphim! Zu ewigen Auen droben, wo Sturm nicht heult, noch Wasser toben! Wir sind des Todes Erben, und ihr könnt nimmer sterben, doch welches besser sei, ein ewig Leben oder ewig Grab, das weiss der Eine nur, der beides gab (d 178).

Anah pflichtet ihr bei:

Und sind wir denn dem Tod geweiht, und soll ich dich verlieren, Azaziel? Oh mein Herz! Mein Herz! Du hast dies Alles prophezeit, und warest doch voll Seligkeit: der Schlag, obwohl nicht unerwartet, fällt wie neu. (d 178/ vgl. e 245).

Anah beschwört Azaziel zu fliehen. Dann spricht sie von den Geistern, die sich ihr in Liebe nahten und ihr Erkenntnis brachten und dafür jäh vom Sternenthron in eine Welt der Nacht gestürzt wurden. – Da meint sie wohl die Geister, mit denen Japhet gesprochen hatte, und die sie auch kennt. Dann fleht sie Azaziel wieder zu fliehen und nicht um sie zu trauern.

Japhet bittet nun seinen Vater, Anah mit auf die Arche zu nehmen, sonst wolle er auch sterben. Doch versteinert in der eigenen Moralvorstellung sagt Noah zu Japhet:

Still, Kind der Torheit, still! - Wenn nicht dein Herz, dein Mund doch sollte zagen Gott anzuklagen. Lebe auf Sein Wort und stirb auf Sein Gebot, ungleich dem Samen Kains gerechten Tod; stumm dulde, wenn dein Gram nicht weichen will (d 179).

Es ist im Sinne des Allmächtigen: Die Mädchen müssen sterben den gerechten Tod für die Tat ihres Grossvaters Kain.

Raphael warnt die Engel Samiasa und Azaziel nochmals:

Seraphim! Lasst Leidenschaft aus Menschen sprechen. Ihr, ohne Leidenschaft und rein, kehrt zurück mit mir! (S. 180).

Doch die Seraphen bleiben bei ihrem Entschluss. So sagt Samiasa:

Es kann nicht sein. Wir wählten, und wir bleiben hier.

Und Azaziel bestätigt:

Er hat’s gesagt. Ich sage Amen!

Darauf verstösst sie der Erzengel Raphael aus dem Himmel. Doch das interessiert die beiden Engel nicht. Sie haben sich entschieden, bei ihren irdischen Frauen zu bleiben und sie auf einen fernen Stern zu bringen. Einem Stern, der ausserhalb der Reichweite des Allmächtigen ist. Es geht ihnen um die moralische Entscheidung, um Treue und nicht um Ideologie und Versteckspiele eigener Begierden.

Japhet sieht jetzt die Sonne, die mit einem schwarzen Ring aufsteigt:

Die Sonne! Die Sonne! – Sie steigt empor, doch nicht ein Bild der Wonne, ein schwarzer Kreis umspannt der roten Scheibe Rand, der letzte Sommertag der Erde schwand. Die Wolken werden nächtig fahl, nur kupferfarbig streift ihr Saum die Schwelle, wo sonst der Morgen kam mit seiner Helle.

Die Sintflut wird von nun an nicht mehr als Gefahr der verschlingenden Mutter wahrgenommen sondern als Strafgericht des Allmächtigen. Demgegenüber übernimmt die Grosse Mutter in der Gestalt der Arche den schützenden Aspekt unter der Dominanz des Grossen Vaters. So sagt Noah:

Und siehe dort dieser Lichtblitz! Der Vorbote des fernen Donners erscheint! Sie kommt!
Also weg von hier! Überlässt den Elementen ihre grässliche Beute!
Also geh, wo unsere heilige Arche ihre sicheren und
vernichtenden Seiten aufgerichtet hat* (d 182/e 249).

Aber Japhet flieht nicht ohne Anah, doch Noah bleibt hart:

Dann stirb wie sie! Du siehst prophetisch jenen Himmel grollen und kannst, was er verdammt, noch retten wollen? Siehst du nicht alle Dinge in der Runde mit dem gerechten Zorn des Herrn im Bunde?

Die Sintflut sieht Noah als gerechten Zorn Gottes. Doch Japhet fragt rebellisch:

Gehen Raserei und Recht denselben Pfad?* (e 249f.)

Er hinterfragt die Gerechtigkeit des Allmächtigen. Und was macht ein Patriarch, dem sein System hinterfragt wird? Er droht:

Gottloser, der du jetzt noch lästernd murrest!

Hier schaltet sich der Erzengel Raphael ein. Dass Japhet, der Sohn Noahs überleben soll, ist vorherbestimmt. Raphael meint, wenn Japhet der jugendlichen Sturm-und-Drang-Zeit entronnen ist, wird er ein Patriarch wie Noah sein.

Aholibama meint angesichts der vernichtenden Flut hoffnungslos:

Die Stürme nahn! Himmel und Erde drohn verbündet die Vernichtung alles Lebens. Und wider des Allmächtigen Throns kämpft unser Arm vergebens. (d 183)

Doch ihr Geliebter Samiasa weiss es besser:

Aber wir sind mit Euch; wir werden euch zu einem ungestörten Stern tragen, wo du und Anah unser Los teilen sollen. Und wenn du nicht um deine verlorene Erde weinst, wird auch unser verwirkter Himmel vergessen sein* (e 250).

Amor und Psyche

Le ravissement de Psyché von William-Adolphe Bouguereau, aus wikimedia.org

Die Engel wollen die beiden Mädchen mitnehmen auf einen friedlichen Stern, wo Samiasa und Azaziel mit ihnen ihr Schicksal teilen wollen. In der deutschen Übersetzung steht «unsere Herrlichkeit», im Englischen aber «our lot» («unser Los»). Ich denke, Lord Byron drückt mit «our lot» die Zwiespältigkeit der unsterblichen Engel aus: Sie können die Mädchen nur durch den Tod ins ewige Leben führen, vergleichbar mit «Psyche» in Apuleius’ «der Goldene Esel»: Psyche stirbt, doch ihr Geliebter, Gott Amor, wischt ihr den Tod ab, woraus Zeus sie im Olymp aufnimmt. Ähnlich werden auch hier die beiden Engel ihren Frauen den Tod abwischen und auf den fernen Stern bringen. Auch sagt Samiasa, die Frauen sollen nicht über die verlorene Erde und den strafenden Himmel weinen, denn das ist ein System, das sich mit der Zeit selber vernichtet.- Auch Azaziel muss seine Anah, die über das väterliche Zelt und die Herden trauert, trösten:

Dein Seraph - Fürchte nichts. Verbannt vom Himmel werde unser Haupt, doch vieles bleibt uns, was uns keiner raubt.

Worauf der Erzengel Raphael nur Drohungen und Verwünschungen ausstösst:

Rebell! Dein Wort ist gottlos, wie fortan machtlos dein Arm. Das Schwert des Strafgerichts, das einst den Erstgeborenen trieb aus Eden, flammt in der Cherubs Hand noch heute.

Raphael droht den Engeln mit dem flammenden Schwert des Cherubs vor dem Tor des Paradieses. – Lächerlich! meint Azaziel, der kann doch einem Engel nichts anhaben. Dann fliegen Samiasa und Azaziel mit den beiden Mädchen weg Richtung fernen friedlichen Stern.

Während Japhet um Anah trauert, rufen Sterbliche ihn um Hilfe an:

Oh Sohn des Noahs! Hilf, o hilf uns Armen! Willst du uns so verlassen? Hab Erbarmen! Willst du allein in sicherer Arche schweben, indes die Elemente im Kampfe sind?

Und eine Mutter fleht Japhet an, wenigstens ihren kleinen Sohn mitzunehmen. Sie fragt sich auch, weshalb sich Erde und Hölle auftun müssen zu ihrem und ihres Sohnes Grab (d 185/e 254). Wenn Japhet das Kind nicht rettet, soll er und sein Schöpfer verflucht sein. Darauf antwortet Japhet typisch patriarchalisch:

Schweig! Statt zu fluchen sollt ihr Gnad erflehen!

Gnade erflehen soll sie? – Ja, aber das macht sie doch die ganze Zeit - vergeblich. Das sieht auch der Chor der Sterblichen so:

Um Gnade flehn? Und wen soll unser Schrei erreichen?
Wo die geschwollene Wolke niederhängt und birst am Firmament, und brausend das Weltmeer seine Dämme sprengt bis selbst die Wüste keinen Durst mehr kennt?
Hurricane Elena Verflucht sei ER, der dich und deinen Vater schuf!
Vergebens wohl ist unsres Fluches Ruf.
Doch da sein Grimm uns heimgesucht, weshalb noch sollen wir für Ihn, der kein Erbarmen hat, beten und knien, um doch verdammt zu sein?

Hurricane Elena aus coastalliving.com»

Der Chor sagt nun das, was die Engel vorhin angetönt haben.

Wenn Er die Welt schuf, sei die Schmach auch Sein, der sie zur Qual schuf! –
Seht, sie nahn, die grausen Gewässer nahen mit Gewalt,
und die Natur verstummt vor ihrem Brausen.

Wenn der Allmächtige diese Welt erschuf, dann gereicht ihre Zerstörung auch konsequenterweise zu seinem eigenen Schmach. Dabei sehen die Sterblichen auch, wie die Wälder, die Haine, wo Eva dem Adam Wissen lehrte, und wo Gott Adam den ersten Psalm seiner Knechtschaft einprügelte, in den Fluten versinken.

Der Chor der Sterblichen schaut nun vergeblich zum Himmel. Dann rufen sie Japhet höhnisch zu, er solle fliehen:

Flieh! Sohn Noahs, und pflege der Ruhe im dir gewährten Meereszelt, und wenn die Leichen deiner Jugendwelt rings schwimmen auf dem Wasserfeld, dann sende Dank und Loblied du Jehovas zu! (d 185f.)

Ein anderer Sterblicher lobt Gott:

Selig sind die Toten, die im Herrn entschlafen!

Dieser Satz stammt aus der Johannes Offenbarung 14,13: da geht es um die Verfolgung der Christen, die im Tod zur Auferstehung gelangen. Danach sind die hier Sterbenden die Erlösten. - Und weiter sagt der Sterbliche:

Und ob die Flut über das Erdreich tobt. Er hat es geboten.
Sein Name sei gelobt!

Der Satz erinnert an Jesaja 43,2:

Wenn du durch Wasser gehst –
ich bin bei dir, und durch Flüsse –
sie überfluten nicht, wenn du durch Feuer schreitest,
wirst du nicht verbrannt, und die Flamme versengt dich nicht.

Doch immer zahlt jemand die Zeche. So steht in Jesaja 43 weiter:

Denn ich, der Herr, bin Dein Gott, der Heilige Israels, dein Retter. Ägypten habe ich als Lösegeld für dich hingegeben, für dich Kusch und Saba.

Der Sterbliche in «Himmel und Erde» lobt nun Gott, den Allmächtigen in seiner Ganzheit. Gott schafft und zerstört. Genau so beschreibt es auch Deuterojesaja:

Ich bin der Herr und keiner sonst. Der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft (Jes. 45,6f.).