5.5. Schuld - Empathie - Selbst
Da ist einmal Anah, die wegen ihrer Liebe zum Sohn Gottes sich zwar keiner Schuld bewusst ist, aber von Schuldgefühlen geplagt wird, weil sie, die Sterbliche einen Unsterblichen liebt. Beide Mädchen sind sich völlig bewusst, dass sie bloss Staub sind und sterben werden. Ihnen gegenüber steht Japhet, er weiss, dass er diese Katastrophe überlebt, denkt auch über die anderen nach. Die anderen sind aber die «Gefallenen», die «Brüder», die sein Mitleid erregen, aber am Ende überlässt er sie ihrem Schicksal.
Sein Vater Noah sieht sich als «Auserwählter Jehovas», dem nichts Böses passieren kann. Dafür teilt er aus, so nimmt er die beiden unbescholtenen jungen Frauen für Kains Vergehen in Haft. Und sein Urteil ist vernichtend, sie sind «schlimmere Wesen als böse Menschen». Noah plagen keine Schuldgefühle, und deshalb kommt er auch nicht mit den Geistern in Kontakt. Er steht über allem, im gleissenden Licht des Allmächtigen. Er steht über der Finsternis, der Höhle, der Sintflut, deren Auswirkungen die anderen tragen. Das heisst er verdrängt seinen Schatten. Die Bösen und «die noch schlimmeren Wesen» sind Projektionen seines eigenen Schattens. In seiner Erhabenheit hilft er niemanden, sondern droht sogar seinem Sohn mit dem Tod. Letztlich handelt er nur für sich, bestenfalls für seine Söhne, seine Nachfolger.
In der Bibel hat Noah nichts mit Geistern zu tun, aber er legt sich nach der Sintflut einen Weinberg an – auf dem Boden der Katastrophe, auf den Gräbern der Verstorbenen und verfällt der Trunksucht. So heisst es in I. Mose 9,20f.:
Und Noah, der Ackerbauer, war der Erste, der einen Weinberg pflanzte. Und er trank von dem Wein und wurde betrunken, und er entblösste sich im Innern seines Zeltes.
Drunkeness of Noah (ca. 1515) von Giovanni Bellini aus wikimedia.com
Ich denke, mit der Trunkenheit ersäuft er das schauerliche Erlebnis von der Sintflut sowie sein schlechtes Gewissen.
Das Bewusstsein Japhets ist durchlässig, und deshalb diskutiert er mit den Geistern. Die Geister sind nicht böse! Sie sagen nur die Wahrheit etwa, dass Noah ein selbstgefälliger Wurm ist! – Noah und Japhet wurden vom Allmächtigen zufällig zum Überleben auserkoren. Denn der Sterbliche, der Gott verflucht und der andere, der die Ambivalenz Gottes akzeptiert, sind vom Schlage Noahs, aber gehen trotzdem unter.
Die Geister geben sich dem Japhet zu erkennen: Sie waren einst Engel im Zirkel des Allmächtigen, sind aber freiwillig auf die Erde gekommen aus Mitleid mit ihren Freunden (mates, fellows). Auch Anah spricht von den Geistern. Diese sind ihr in freundlichem Wohlwollen begegnet und lehrten sie «Erkenntnis». Auch einige der Sterblichen haben eine Sicht von Wahrheit, die sie wohl von den Geistern erworben haben. Die Geister verkörpern den kollektiven Schatten. Sie hinterfragen die geltende patriarchale Wertung und bringen neue Ideen und Erkenntnisse.
Da im Unbewussten oben und unten, Himmel und Erde zusammenfallen, ist auch der «ferne Stern», von dem Samiasa spricht, identisch mit der Tiefe der Erde. Dies drückt Japhet in der 3. Szene A) aus:
Und kann es sein? Soll jener stolze Firn, der wie ein ferner Stern hernieder leuchtet,
tief unten in der kochenden Tiefe liegen?* (d 157/e 216)
Oder wenn Noah sagt:
Ein weisser Flügel, von der Flut genetzt, nie stieg empor. (3. Szene D, d 181)
Zeigt sich, dass auch die unsterblichen Wesen in den Fluten untergehen.
Japhet spricht dann von Schlangen inmitten des Schlammes als Produkt der Verwesten: So manche Schlange wird die Sintflut überleben und durch die dampfende Erde hervorkriechen, aus dem Morast, der zum Monument der Erdkugel wird. Der salzige Sumpf wird zum einzigen Denkmal des undifferenzierten Grabes von Myriaden von Leben (d 157). Doch dieses Grab ist der Beginn einer neuen Schöpfung. Diese neue Schöpfung korrespondiert mit einem neuen Gottesbild. Denn trotz aller Drohungen hat der Allmächtige keine Macht mehr über seine Engel und keine Autorität vor Japhet.
In «Himmel und Erde» schaut Noah nur für sich. Die Abgründe, die sich in seiner Seele auftun, interessieren ihn nicht sondern vielmehr das gleissende Licht der All-Macht. Anders als sein Vater zeigt Japhet Mitgefühl mit Mensch und Natur und seine Solidarität mit den Menschen geht soweit, dass er selber mit ihnen sterben will:
Sterben! In der Jugend sterben und doch glücklicher sein in diesem Schicksal, als das universelle Grab zu sehen! So bin ich dazu verurteilt, vergeblich zu weinen. Warum, wenn alle umkommen, warum muss ich bleiben? (e S. 257f.)
Auch die vier Frauen zeigen Mitgefühl und Verantwortung: So flehen Anah und Aholibama in Todesgefahr ihre Engel an, zu fliehen und nicht um sie zu trauern. Oder die Mutter, die bei steigendem Wasser den Japhet bittet, wenigstens ihren kleinen Sohn mit in die Arche zu nehmen. Berührend ist eine andere Frau, die erzählt, wie sie am Morgen aus Dankbarkeit für ihr Dasein die Natur segnete:
Als ich zur Klippe stieg diesen Morgen, segnete ich noch den Ort, - Er war so still, so schön! – rings Alles schwieg, -und nun ist Alles fort! Oh, warum hab ich je das Licht der Welt gesehen? (d 187)*
Die Katastrophe überleben Egoismus und Selbstherrlichkeit in Gestalt Noahs während sein besinnlicher Sohn sich mit den Schwestern solidarisch zeigt und deshalb Gott, den Allmächtigen in Frage stellt.
The Leviathan (1710), British Library HMNTS 1077.g.2, aus wikimedia.com
Auch die Geister rebellieren gegen Gott und seine Gesetze, die die Menschheit bestrafen für böse Taten ihrer Vorfahren, für die Schattenproblematik patriarchaler Ideologie. Die Geister sehen in der Katastrophe das Versagen des Allmächtigen als Schöpfergott. Und damit verliert dieser seine Glaubwürdigkeit. Neben den Geistern machen Samiasa und Azaziel vor, was Verantwortung und Treue bedeutet, so nehmen sie ihre irdischen Frauen mit auf den fernen Stern, wo sie mit ihnen ihr Schicksal («our lot») teilen.
Im Gedicht ist Japhet die Hauptperson, die Szenen orientieren sich an seinem Bewusstsein. Nach dem Yin-Yang-System von Jolande Jacobi sieht das wie folgt aus: Sein Denken orientiert sich an den Werten seines Vaters, an die Gebote und Gesetze des Allmächtigen, zu denen die Bestrafung von Untaten auch nach Generationen gehören (vgl. II. Mose 34). Seine Liebe zu Anah belebt Japhets Intuition und mit dieser der Archetyp der Grossen Mutter. Die Faszination der Grossen Mutter führt ihn zur Höhle im Berg Ararats (Wahrnehmung), wo er die Geister trifft. Die Geister stellen seinen und seines Vaters Schatten dar (Introversion). Japhet stellt sich den Geistern und muss erfahren, dass der Mensch so wie sein Vater einer ist, das Paradies auf Erden verwirkt hat und immer wieder verwirken wird. Daran ändert die Sintflut nichts. Die Liebe zu Anah belebt auch Japhets Fühlen, das er im Mitgefühl zur bedrohter Natur und zu den gefährdeten Menschen ausdrückt. Damit sind die Bedingungen zu seiner persönlichen Ganzheit erfüllt, einerseits mit seinen Bewusstseinsfunktionen Denken, Wahrnehmen, Intuition und Fühlen als auch durch seine Auseinandersetzung mit unbewussten Inhalten (Introversion) wie der Schatten in Gestalt der Geister und seiner Anima in der Person Anah.
Aus seinem Protest gegen den Allmächtigen und angesichts der Katastrophe konstelliert sich im Bewusstsein Japhets ein neues Gottesbild in der Vierer-Gestalt von Samiasa-Aholibama und Azaziel-Anah. Denn durch die Himmelsfahrt erlangen die beiden jungen Frauen, wie die oben erwähnte Psyche, Unsterblichkeit. Dieses Gottesbild wird ergänzt durch das Grosse Runde. Denn am Eingang der Höhle erkennt Japhet, dass die Tiefen der Erde und der ferne Stern ein und dasselbe ist.
Es gibt auch Theologinnen, die sich mit der Vierer-Gestalt Gottes auseinandergesetzt haben. Josephine Schreier etwa schreibt zu Chwjh (חַוָּה, dt. Eva):
In Ch-W-J-H ist Ch das Mutterzeichen, H das Tochterzeichen, während W-J das himmlische und das irdische Männliche symbolisieren.
Oder Christa Mulack zu Abba, «Väterchen», wie Jesus seinen Gott nannte . Da symbolisiere A(lpha) ein männliches Zeichen, B(eta) ein weibliches. Sie sieht darin einen Gott, der seine Weiblichkeit integriert hat. Ich setze beide Wörter zu einem Symbol zusammen, wobei das Weibliche das Männliche in sich integriert hat und das Männliche das Weibliche.